Hexen: haben und halten
Wir waren zu viereinhalb, und alle, die unseren Treck sahen, schauten mit offenem Mund auf den Kerl, der ihn anführte.„Mit dem können Sie nicht hinein“, sagte der Mann am Einlass.
„Warum?“, fragte Josef.
„Weil man mit einem Hund nicht in ein Konzert geht.“
„Weil was passiert, wenn ein Hund in ein Konzert geht?“
„Ja, zum Bellen könnte er anfangen!“
„Nein, der nicht. Wir …“, dabei deutete Josef auf uns alle, „… haben Plätze am Ende der Reihe. Gibt mein Hund einen einzigen Laut von sich, verlassen wir das Konzert.“ Bevor der Kartenabreißer Josefs Logik hinterfragen konnte, gingen wir an ihm vorbei und reihten uns in den Strom der anderen Besucher ein.
„Gehörn die alle zamm?“ fragte hinter uns eine ältere blonde Frau ihren Mann. Bevor der was sagen konnte, drehte sich Josef zu ihr um und nickte.
Ich war die Jüngste im Treck, sogar jünger als Fratz, wenn man uns in Hundejahren verglichen hätte. Als Jüngste hatte ich nie was zu erzählen und redete nur, wenn man mich ansprach. Verbrachte ich Zeit allein mit Josef, dann fragte ich ihn manchmal was. Nicht oft, weil ich fürchtete, er könnte merken, wie jung und dumm ich war. Auf einem Spaziergang im Englischen Garten fragte ich einmal, warum die Bäume immer nur von einer Seite mit Moos bewachsen seien. Hätte ich gewusst, dass er daraus eine öde Biologiestunde macht, in der er mir nicht nur die Moosfrage beantwortete, sondern gleich das gesamte Ökosystem Englischer Garten erklärte, kein Wort wäre über meine Lippen gekommen.
Wessen Idee es ursprünglich war, ins Konzert von Herman van Veen zu gehen, weiß ich nicht mehr. Ich glaube Henriettes, weil sie einen vom Circus Krone kannte, der ihr was schuldete, genug für vier Karten, die sich keiner von uns hätte leisten können. Nach der Sache auf der Trabrennbahn in Daglfing war ich ziemlich sicher, dass wir mit dem Hund auch ins Konzert kommen würden. Henriette stand Josef an Überzeugungskraft nicht nach. Wurde es irgendwo schwierig, stellte sie sich vor und fragte, worin das Problem bestehe. Das hatte der Mann am Einlass zur Rennbahn fast vergessen, als Henriette mit dem Aufsagen ihres Namens fertig war.
„Entschuldigen Sie, Frau von… Gräfin, eigentlich dürfen keine Tiere, ich meine Hunde, auf die Rennbahn, also auf das Gelände. Wegen der Pferde. Aber, wenn Sie meinen, dann schon, und er schaut ja recht lieb. Gehen Sie ruhig durch, alle.“ Das erste Mal, dass jemand gesagt hatte, Fratz würde lieb schauen.
„Wenn der wüsste, wie sie auf Schimmel reagiert“, hatte Henriette gefeixt, als wir uns dem Vorführkreis näherten. Fratz hasste weiße Tiere und würde beim erstbesten Schimmel ausflippen.
Bereits am Eingang des Krone-Baus roch es nach Pferdeäpfeln, Einstreu und Elefant. Die 6er-Boxen mit den Stühlen erschienen mir heute viel kleiner als damals bei meinem ersten Zirkusbesuch, aber da war ich noch ein Kind. Die anderen genossen die Aufmerksamkeit, die wir auf uns zogen. Fratz schnupperte Richtung Manege. Man hatte sie mit schwarzen Holzplatten ausgelegt. Pünktlich um 20 Uhr öffnete sich der Vorhang. Herman sang „Ich hab ein zärtliches Gefühl“. Das hatte ich auch, und zwar für Josef, der in den Augen meiner Mutter der klassische Nichtsnutz war und deswegen hervorragend zu mir passen würde.
„Gleich und gleich gesellt sich gern“, hatte sie bei meinem Auszug gegeifert, aber den Spruch kannte ich schon.
Außer mir hatten auch Gabriele und Henriette ein zärtliches Gefühl für Josef. Ob man das von einer 65 kg schweren Rottweiler-Hündin behaupten konnte, bezweifelte ich. Jedes Mal schmiss mich das Luder um, wenn ich nach Hause kam und versuchte, ihre Begrüßung ohne Wand im Rücken zu überstehen. Josef liebte jede von uns. Er war nicht der zärtlichste aller Männer, aber der gefühlvollste, den ich je kannte.
„Gibt’s des jetzt in Minga a scho?“
„Wos?“
„Kommunen?“
„Fei scho lang.“
Die Frau in der Reihe hinter uns, schaffte es nicht, sich auf Herman zu konzentrieren. Als ich mir das Pärchen ansah, dachte ich, dass sie ihre Karten auch geschenkt bekommen, aber keine Ahnung gehabt hatten, wer van Veen war und welche Musik er machte. Das wusste 1978 nicht jeder. Damals schaltete sich der Bayerische Rundfunk aus vielen Sendungen mittendrin weg oder gar nicht erst ein. Im Gegensatz zur bayerischen Polizei, die sich immer einschaltete - gerade erst ungebeten bei unseren Freunden, die sie mit vorgehaltenen Maschinengewehren aus dem Bett geholt hatten, um sich von ihnen jeden Kilometer erklären zu lassen, den sie mit ihrem weißen VW-Bus jemals gefahren waren.
Von uns hatte nur Henriette ein Auto. Als wir einmal mit ihrem Fiat 500 zu Josefs Wohnung unterwegs waren, hatte sie tanken müssen. Beim Blick auf die Zapfsäule, die 20 Liter anzeigte, hatte ich sie gefragt, ob sie mit halber Tankfüllung den Rest des Monats auskomme. Sie lachte und sagte: „Mehr als 20 Liter gehen nicht rein“. War nicht viel, wovon ich damals Ahnung hatte.
Während Henriette sich um unser kulturelles Wohl kümmerte, sorgte Gabriele ab Mitte des Monats manchmal für unser leibliches. Sie wohnte in einem besetzten Haus und kaufte von ihrem Geld, das sie mit Nähjobs verdiente, ab und zu Kartoffeln und Tee für Josef und mich. Da sie und Henriette oft bei uns aßen und schliefen, war klar, dass sie auch was mitbringen mussten. Ich konnte nicht für vier Erwachsene und einen Hund alles Nötige zusammenklauen. Wenigstens hatte mir Gabriele eine ihrer neuen Pluderhosen-Kreationen auf den Leib geschneidert. Diese Hosen saßen auf Hüfte und Arsch knalleng und wurden nach unten extrem weit, am Knöchel schlossen sie eng mit Gummizug ab. Damit ich im Supermarkt kräftig hinlangen konnte, nähte sie mir große Taschen in die Innenseite der Hosenbeine. Ich trug sie jeden Tag und verließ den Laden immer breitbeiniger, als ich ihn betreten hatte. Bange war mir nicht, im Gegenteil, würde mich jemand erwischen, hätte er mir ja vorrechnen können, wie man von 260 DM im Monat leben soll zu zweit, eigentlich zu dritt. Fratz hatte zehn Kilo mehr als ich auf den Rippen und immer Hunger. Ok, der Hund war Nichtraucher, und die Bananen, die er für sein Leben gern aß, schenkte ihm eine dicke Gemüsefrau am Viktualienmarkt. Mir aber nicht.
Als Herman von einer sang, die nicht viel sagte, erinnerte ich mich an Doris. Die war mir nicht mehr über den Weg gelaufen seit der Sache mit dem Darts-Pfeil in ihrem Oberschenkel. Wir hatten nach der Zirkusvorstellung, ein Geschenk ihres Vaters, die Messerwerfer-Nummer nachgespielt. Dass sie nicht weinte, hat mich sehr beeindruckt. Total ruhig, als würde sie das jeden Tag machen, zog sie das Geschoss aus ihrem Oberschenkel, sah mich an und sagte: „Taschentuch“.
„Hab keins.“
„Dann dein T-Shirt.“
„Ich hab nichts drunter!“
„Du bist neun und flach wie a Hauswand.“
Ich gab ihr mein T-Shirt, das sie sich um den Oberschenkel zurrte, an dem eine ordentliche Menge Blut runterlief.
„Und jetzt?“, fragte ich sie.
„Gehe ich nach Hause.“ Als ich ihr nachschaute, wie sie um die Ecke humpelte, wusste ich, dass ich nicht mehr ihre beste Freundin war.
Josef war Maler. Ein gescheiterter, obwohl das nicht ganz stimmt. Um in der Münchner Szene zu scheitern, hätte er wenigstens für eine Zeit lang drin sein müssen oder versuchen reinzukommen. Aber seit das Kulturdezernat seine eingereichten Entwürfe für die olympischen Ringe und das Behältnis fürs Feuer abgelehnt hatte, fühlte er sich unverstanden, dauerhaft. Mir gefielen seine riesigen Bilder ganz gut, nachdem er sie mir erklärt hatte. Gabriele malte auch, seit Josef sie dazu ermuntert hatte, und verkaufte das Seidenpapier-Zeug, das sie im zugekifften Zustand produzierte, auf dem Flohmarkt in der Leopoldstraße. Einmal hat Josef sie gefragt, was sie für so ein DIN A 5 großes Fetzerl im Wechselrahmen bekommt, und Gabriele machte den Fehler zu antworten. Mir das Malen beibringen zu wollen, konnte ich Josef vorab nicht ausreden. Nach dem ersten Versuch sagte er: „Du malst wie a Dreijährige!“
„War nicht meine Idee. Ich habe gesagt, schade ums Papier.“
„Wirst dir eine andere Kunst suchen müssen.“
„Schriftstellerei.“
„Dann schreib was!“
„Ich bin noch zu jung.“
„Aber nimmer lang.“
Gabriele hatte er ein halbes Jahr nach mir kennengelernt. Am Anfang habe ich sie gehasst, weil sie mehr Zeit hatte und bei Josef übernachten konnte, während ich mich zu Hause blicken lassen musste und schlafen. Wenn Josef auf dem Klo war oder drüben im Atelier, haben wir uns gestritten. Weil sie älter war, hatte sie mehr Gift als ich und die feineren Düsen, um es auf mir zu verteilen. Dass ich ihr ab und zu in den Tee gespuckt habe, wusste nur Fratz. Irgendwann, als sie heulte, weil ich ihr die Haare verschnitten hatte, und ich heulte, weil ich mich zu Unrecht verleumdet fühlte, schmiss Josef uns beide raus. Unten auf der Straße haben wir uns eine Tüte geteilt und die Zeit mit Josef: sie bekam ihn an geraden, ich an ungeraden Tagen. Als ich dann von zuhause raus konnte und zu ihm gezogen bin, war der Deal hinfällig.
Als Josef mit Henriette ankam, wurden Gabriele und ich beste Freundinnen. Ette war die Älteste und toppte Gabi und mich mit links. Ich stand gerade in der Küche und briet Kartoffeln für den Maestro, da kam sie von der Seite und meinte: „Warum kannst du mich nicht leiden?“
„Das fragst du?“
„Ja, ich möchte das gerne wissen.“
„Ok: Nicht nur, dass du hammer aussiehst, du bist irre gebildet und – was sonst! – Malerin. Und weil dir das nicht reicht, hast du natürlich den geilsten Arsch von uns.“ Sie setzte zu einer Antwort wie Du-bist-doch-auch-eine-tolle-Frau an, hielt aber die Klappe, als ich mit der heißen Bratpfanne auf sie zuging. Drei oder vier Monate verschwand Josef für eine Nacht oder zwei pro Woche nach Giesing zur ihr in die WG, während Gabi mit mir bei uns in der Wohnung übernachtete. Der Trost, den wir uns spendeten, und die Lust, machten Henriette zwar nicht vergessen, aber erträglich. Fratz musste Josef bei uns lassen, wenn er zu ihr ging, weil sie den Rest ihrer weißen Katze behalten wollte.
„Rudelbumsen und dann die Kaufhäuser anzünden – nix anderes machen die doch!“ Dieses Mal drehte sich Gabi rum und sagte: „Sie haben das Kiffen vergessen. Machen wir vorm Bumsen“.
Josef ergänzte mit Blick auf den Mann: „Ohne das Zeug würde ich die drei auf einmal gar nicht schaffen“. Genaugenommen schaffte Josef immer nur eine von uns. Dass er nicht der zärtlichste war, wussten Gabi und ich vor Henriette. Als sie es auch wusste, sind wir zu dreieinhalb in den Englischen Garten, um darüber zu diskutieren. Ette hatte am meisten Erfahrungen mit Männern, Gabi nicht so gute, ich nur die mit Josef.
„Am besten fickt er, wenn er richtig sauer ist“, sagte ich breit grinsend, als ich nach meiner Meinung gefragt wurde. Die anderen beiden schauten mich an, als hätte ich behauptet, mein Schlitz säße quer.
„Bei euch nicht?“, fragte ich. Henriette meinte, sie schlafe nie mit einem Mann, wenn er aggressiv sei, und Gabriele sagte, das erinnere sie jetzt sehr an ihre schlechten Erfahrungen. Plötzlich dachte Henriette, sie sei meine ältere Schwester und für mich verantwortlich: „Aber der Josef schlägt dich doch wohl nicht?“ Ich hatte keine Chance: während ich versuchte, das Grinsen abzustellen, und stotterte: „niemals nicht und überhaupt schon gleich gar nicht“, glühten meine Ohren knallrot. Eine halbe Stunde hat es gedauert, um Ette zu überzeugen, das sie mein Sex mit Josef einen feuchten Dreck anging, ich den Mann nicht nur am längsten kannte, sondern auch mit ihm zusammenlebte, was mir verdammt noch mal das Recht gab, mich von ihm so ficken zu lassen, wie es mir passte. Für Zärtlichkeiten hätte ich schließlich die Nächte mit Gabi, während derer die Freifrau mit meinem Kerl diskutiert, ob ein Arschfick ihrer Künstlerwürde widersprach. Nachdem ich Ette klargemacht hatte, dass sie nicht das einzige Luder war, ging ich mit Fratz im Eisbach baden.
Während Herman das Lied „Haben und Halten“ sang, schaute Josef uns nacheinander an. Wer aus welchem Grund auf ihn getroffen war, bald gehen würde, wer bei ihm bleiben, darüber hatten wir am Abend nach der Rennbahn gesprochen. Obwohl er früher jahrelang mit Pferden gearbeitet hatte, waren seine Tipps Nieten gewesen. Die Wahl der anderen beiden fiel auf Pferde mit schönen Augen. Zum Schluss sang Herman das Lied vom „kleinen Fratz“. Das mit dem Namen war Zufall.
© Ozeana (2012)