8 Scampi
Aus dem Wohnzimmer höre ich meinen Mann sagen, dass wir uns heute Abend mit Geschäftspartnern in einem noblen Landhotel zum Essen treffen werden und ich mich unter die Dusche begeben solle, während er mir das entsprechende Kleid herauslege. Fünfundvierzig Minuten später stehen wir beide im Schlafzimmer vor dem Spiegel und bewundern uns. Mein Mann trägt einen tiefschwarzen Anzug und sieht darin dermaßen gut aus, dass ich von seinem Anblick feucht werde. Trotzdem ich ihn häufiger nackt als im Anzug gesehen habe und mit ihm schon seit der Schulzeit zusammen bin, kann ich noch immer dieselbe Distanz zu ihm empfinden wie jeder Mensch, dem er durch seine Anzug-Erscheinung gehörigen Respekt einflößt.Wenn wir uns gemeinsam in der Öffentlichkeit bewegen und er mir zuliebe aus seiner Rolle fällt, indem er mir ein privates Lächeln schenkt, ein obszönes Wort ins Ohr flüstert oder von mir als seiner „geliebten Frau“ spricht, hebt er die Anzugdistanz für einen Moment auf, was den nachfolgenden Augenblick um so prickelnder macht, wenn er seine Kleidung und den Umstand, dass wir coram publico sind, dazu benutzt, mehr Distanz zwischen uns zu legen, als es fünf Anzüge übereinander tun könnten. Dann sieht er mich plötzlich an, als sei er mir noch nie begegnet und ich ihm gerade erst vorgestellt worden, als handle es sich bei mir um die Kellnerin oder eine Bordsteinschwalbe. Ich kann mich den mir ad hoc zugewiesenen Rollen nicht entziehen, fühle mich in diesen Momenten wie eine Fremde, eine Bedienstete oder ein Call Girl.
Von ihm würde heute Abend kaum Haut, von mir fast nichts anderes zu sehen sein. Er hat mir ein sehr kleines Schwarzes rausgelegt, dazu mörderisch hohe schwarze High Heels. Ein winziger Riemen umspannt die Zehen und ein weiteres schmales Riemchen liegt um die Fußfessel. Der ganze Schuh: nur eine Andeutung seiner selbst. Die zu ihm passende Handtasche wurde von der Kleiderordnung gestrichen. Mein Mann steckt den Lippenstift ein. Mit den Andeutungen in der Hand gehe ich zum Wagen. Anziehen darf ich die Schuhe erst im Auto, damit ich mir auf dem Weg dorthin nicht die Sehnen reiße.
„Sind das wichtige Leute für dich?“, frage ich ihn, als wir auf der Autobahn sind. „Ja und nein, wenn ich sie für das Projekt gewinne, ist es gut, wenn nicht, finde ich andere. Kostet mich nur ein bisschen mehr Zeit“, sagt er. Ich spüre, er ist bester Stimmung, freut sich auf das Essen, den Abend und das, was er mit mir vorhat, wenn wir im Hotel auf unserem Zimmer sind.
Eine halbe Stunde später stehen wir im ländlichen Nirgendwo vor einer Herberge, in dessen Restaurant ein Zwei-Sternekoch feine Menüs zaubert. Gottseidank, der Weg ist betoniert und nicht geschottert wie sonst üblich bei Landhotels. Mein Mann hält vor dem Haupteingang, wo ich versuche, so auszusteigen, dass der Portier weder meine Schamlippen noch meinen Po sieht. Danach bin ich mit dem Austarieren meines Körpergewichts beschäftigt. Ich möchte ohne Halt frei stehen, bis mein Mann vom Einparken des Wagens zurückkommt und mir seinen Arm als Stütze reicht. In den Augen des Portiers sehe ich Bewunderung für meine Bemühungen. Es sind etwa fünf Schritte bis zum Eingang und doppelt so viele bis zum Tisch in einem Nebenraum des Restaurants. Da ich ausschließlich mit Gehen beschäftigt bin, achtet mein Mann darauf, dass wir nicht den Eindruck vermitteln, als würden uns meine Schuhe am Fortkommen hindern, sondern als hätten wir alle Zeit der Welt, die wir am liebsten auf dem Weg zum Ziel verschleudern.
Er dreht den Kopf in meine Richtung und flüstert mir ins Ohr: „Ich rede. Achte auf den Inhalt der ersten Sätze“. Verstanden, wir würden nach langer Zeit wieder einmal ein Spiel in der Öffentlichkeit spielen. Wir nähern uns dem Tisch, an dem bereits acht Personen sitzen, davon zwei Frauen, von denen ich nicht weiß, ob sie Begleitung darstellen oder selbst in Geschäften unterwegs sind. Die sechs Herren stehen erwartungsgemäß auf, als wir den Tisch endlich erreichen. Der Mann zu meiner Rechten deutet formvollendet eine Verbeugung an. Mein Gatte beginnt mit meiner Vorstellung: „Guten Abend zusammen. Wer ich bin, wissen Sie seit heute Vormittag, dieses wunderschöne Wesen an meiner Seite ist meine Frau.“ Bevor jemand seine Begrüßung erwidern kann, fährt er fort: „Ich möchte Sie darüber aufklären, dass aufgrund gewisser, hier nicht zu erörternder Umstände meine Frau leider taubstumm ist. Ich sage das, um ihr und Ihnen Missverständnisse zu ersparen.“
Als das Wort „taubstumm“ an meinem präfrontalen Cortex entlangschliddert, sehe ich mich zwecks Aufrechterhaltung der Fassung gezwungen, unter Tischkanteniveau zu entschwinden, um an nicht vorhandenen Seidenstrümpfen nach Laufmaschen zu suchen. Lange Sekunden verstreichen, bevor ich die Auferstehung wage. Auf dem Weg nach oben versuche ich, das letzte Grinsen in einen Ausdruck stoischer Unkenntnis der Lage im Allgemeinen und der meinen im Besonderen zu verwandeln. Mit tief gesenktem Kopf nehme ich Platz auf dem Stuhl, den mir mein Mann anbietet. Danach zähle ich das ausgelegte Besteck meines Gedecks und drehe den Teller um, weil mich interessiert, wer dieses geschmacklose Muster hat auf Porzellan malen lassen. Ich spüre den Blick meines Tischnachbarn zur Rechten, der an mir vorbei meinem Mann seine Anteilnahme bezüglich meiner Behinderung ausspricht. „Das ist gewiss nicht einfach für Sie, damit zurecht zu kommen“, sagt er. „Wissen Sie", entgegnet mein Mann, "weniger schlimm ist, dass meine Frau nicht sprechen kann; was die Arbeit mit ihr schwer macht, ist, dass man auch in intellektueller Hinsicht nicht hundertprozentig mit ihr rechnen kann, wie die Neurologen vermuten.“ Ich habe bereits nonchalant eine Hand vor den Mund gelegt, wünsche mir in diesem Moment aber auch eine verspiegelte Brille. „Wie kann man Intelligenz denn testen, wenn die Testperson ausschließlich auf das Sehen angewiesen ist?“, will mein Tischnachbar wissen, und ich denke: Wieso sticht dir eigentlich niemand das Dessertmesser in die Luftröhre? „Tja“, sagt mein Gatte im Ton des Fachmanns für taubstumme Idiotinnen, „das ist ein Problem, aber wie so oft sind uns die Amerikaner voraus. Sie haben für diese Probanden einen Test kreiert, der über Bildsequenzen und Abfolgetempo, gekoppelt mit dem Drücken verschiedener Knöpfe, Verständnis oder Unverständnis messen kann und einen Anhalt liefert, ob die Probandin zumindest über der Debilitätsgrenze liegt.“
Ich überlege, ob ich mit meinen Absätzen unter dem Tisch an vorgelagerte Weichteile meines Mannes herankomme. Alternativ könnte ich, wenn es Suppe gibt, seinen Schritt verbrühen und seine Eier pochieren. Andererseits, geht es mir plötzlich durch den Kopf, hat mein Mann mir gerade eine Narrenkappe mit Lizenz zum Blödsinn aufgesetzt. Was macht ein Narr? Die Herrschaft blamieren. Wer groß austeilt, darf viel einstecken. Quasi als Sofortmaßnahme beginne ich deutlich hörbar Bäuerchen zu machen, als mein Herr dem Kellner erklärt, was ich zu essen wünsche. Alle bemerken mein Rülpsen und lachen wegen der Koinzidenz. Mein Mann wirft mir einen leicht tadelnden, aber auch amüsierten Blick zu. Er hat verstanden, dass ich mich ab sofort voll und ganz am Spiel beteilige.
„Nun, wie mir scheint, ist Fisch heute nicht das Richtige für meine Frau. Dann möchte ich gerne die Leber bestellen. Keine Kohlehydrate, lediglich einen kleinen Salat als Beilage und dazu ein Glas Milch.“ Wenn ich nur den Geruch von Leber in die Nase bekomme, würgt es mich. Abgesehen davon esse ich gar kein Fleisch. Und damit ich diese Scheußlichkeit auch ja nicht würde runterspülen können, bestellt mir mein Mann ausgerechnet das Getränk, neben dem ich eher verdurste, als es zu trinken. Mein Magen knurrt unbeabsichtigt und laut. Ich habe mächtigen Hunger und den ganzen Tag noch nichts gegessen.
Als jeder sein Essen vor sich stehen hat, sehe ich zum Nachbarn rechts und schaue ihn mit großen hungrigen Augen an. Ich öffne meinen Mund, woraufhin er nicht anders kann, als mir eine Gabel von seinen Spaghetti hinein zu schieben. Ich beginne sofort zu kauen, schmatze ein bisschen und lalle debil vor mich hin. Der Blick, den ich von der linken Seite auf mir spüre, hat eine gewisse Intensität. Ich sehe nicht hin, sondern eruiere stattdessen, was der übernächste Tischnachbar an Essen zu bieten hat. Ich liebe Scampi! Frisch ans Werk: erst lallen, dann Blickkontakt aufnehmen und am Spaghetti-Mann vorbei vom Teller des Scampi-Mannes eine Handvoll entwenden. Das ist meinem Herrn dann doch zu viel. Er packt mich am linken Arm und traktiert mich mit bösen Blicken, die ich aber wegen meiner kognitiven Einschränkung nicht deuten kann.
„Ich glaube, Ihre Frau mag keine Leber“, meint unaufgefordert der Pasta-Mann. Mein Gatte versucht, mir die Scampi aus der rechten Hand zu nehmen, aber ich gebe das Äffchen: Was ich einmal habe, gehört mir! Auch ist nun das Mitleid der Anwesenden ganz auf meiner Seite. „Vielleicht sollten Sie Ihrer Frau Spaghetti mit Meeresfrüchten bestellen“, meint süffisant eine der Business-Tussen, und ich überlege, ob ich sie mit einem Scampi bewerfe.
Mein Mann steht auf und zieht mich am Arm hoch. Alle am Tisch sehen zu uns herüber. Dass man mit geklauten Scampi in der Hand nicht den Tisch verlässt, weiß ich natürlich. Mit Contenance lege ich sie auf meinen Teller und kreuze das Besteck. Dann hebe ich das fettige Händchen und zeige es trotzig meinem Herrn, der sich dafür nicht interessiert. Er zieht mich hinter sich her zu dem kleinen Beistelltisch, auf dem zuvor die Teller angewärmt wurden, legt mich unsanft darüber, schiebt mir das Kleid hoch und lässt achtmal seine flache Hand auf meinen Hintern herabsausen. Der Schmerz ist mir egal - ich wünsche mir sehnlichst, Helen Keller zu sein, nicht nur taubstumm, sondern auch blind, sodass ich nie wieder irgendwem in die Augen schauen muss.
Keiner der anwesenden Männer eilt zu Hilfe, zu sehr gefällt ihnen, was sie sehen. Den beiden Business-Tussen geht wahrscheinlich unterm Faltenrock je einer ab, und ich beschließe, vor Scham zu verscheiden und nach der Züchtigung tot über dem Tisch hängen zu bleiben. Vorerst fertig mit mir, zieht mein Mann mein Kleid wieder herunter, umfasst meinen Oberkörper mit einem Arm, greift mit dem anderen unter meine Beine und trägt mich auf Händen am Tisch vorbei, wo er den verblüfft starrenden Anwesenden mitteilt: „Den Nachtisch nehmen meine Frau und ich auf dem Zimmer“.
© Ozeana (2006)