Verletzlichkeit
Da ich in der dankbaren Lage bin, mein Leben selbstbestimmt führen zu können, inspiriert durch meine ersten Schritte mein erstes Buch zu schreiben, kam die Thematik Verletzlichkeit auf. Hierzu einfach mal meine Gedanken und Erfahrungen.Vor einiger Zeit (ich glaub es war im August 2019 kurz nach meiner Japanreise) war ich alleine in einer fremden Stadt unterwegs an einem Samstagabend angekommen und da ich keine Menschenseele kannte, bin ich abends alleine in einem irischen Pub mit ein wenig Live Musik.
Dort sprach ich eine Frau an. Keine Spielchen, keine Masken, kein Getue. Das Schöne daran war, wir verstanden uns auf Anhieb gut und nach ein paar Stunden hatten wir das Gefühl, wir kennen uns seit Ewigkeiten. Sie vertraute mir ein großes Geheimnis an, das selbst ihre besten Freunde nicht kannten. Doch warum? Warum vertraut sie mir nach ein paar Stunden so sehr und warum hatten wir beide das Gefühl, wir kennen uns seit Ewigkeiten?
Weil wir uns verletzlich gemacht haben.
Ich war offen und ehrlich, habe ihr von meinen Ängsten, Zweifel, Unsicherheiten und meiner letzten „Beziehung“ (wenn man das so nennen kann) erzählt. Ich habe nichts zurückgehalten, nichts versteckt und alles riskiert. Ich habe jegliche Maske abgenommen.
Und dadurch konnte sie es auch. Und nein, wie waren nicht im Bett!
Verletzlich zu sein bedeutet für mich, sich selbst und anderen einzugestehen, dass man nicht vollkommen ist. Wir haben nicht alle Antworten, wir sind nicht immer stark und souverän, wir haben Schwächen, wir fühlen uns manchmal verloren und wissen nicht mehr weiter. Mir als Mensch und Mann geht es ebenso. Das ist menschlich.
Du denkst gerade, dass du schon verletzlich bist? Ich meine hier nicht das Eingestehen von oberflächlichen Ängsten und Zweifel, die du ohne mit der Wimper zu zucken anderen erzählst. Solch Menschenschlag gibt es auch hier zu genüge.
„Ich muss zugeben, dass ich beruflich oft ganz schön nervös gewesen war, wenn ich vor einigen Menschen zu berufsbedingten Themen eine Rede gehalten hatte.“ Aber das ignoriere ich. Und das ist auch keine Verletzlichkeit.
Verletzlichkeit ist, wenn du die Schattenseiten preisgibst, die du dir selbst kaum eingestehen kannst. Klingt grusselig? Ist es aber nicht!
Klingt einschüchternd? Ja, das ist es auch. Doch es ist auch befreiend und der Schlüssel zu Selbstannahme und zu tiefen und bedeutungsvollen Beziehungen, egal, welcher Art.
Das Problem an Verletzlichkeit ist, dass wir die ungeschminkte Wahrheit und Offenheit anderer mögen, gleichzeitig aber fürchten wir uns aber so sehr davor, unsere eigene Wahrheit ans Licht zu bringen. So ergeht es wohl vielen und bei näherem Kennenlernen eines Menschen, wird dies immer deutlicher.
Wir glauben, unsere Ängste und Probleme sind einzigartig. Letztendlich teilen wir aber alle ähnliche Ängste, Zweifel und Sorgen, egal, ob wir Mann oder Frau, jung oder alt, reich oder arm, attraktiv oder unattraktiv sind.
Doch das vergessen wir all zu oft und fürchten uns davor, dass wenn unser Gegenüber erst mal unsere dunklen Seiten und Schwächen kennt, Reißaus nehmen wird. Das passiert leider viel häufiger als wir uns das wünschen. Menschen die so reagieren, zeigen aus meiner Sicht einen sehr schwachen Charakter. Jedoch in einigen, wenn auch nicht vielen Fällen, passiert jedoch genau das Gegenteil.
Ich habe für mich erkannt, wenn ich meine Verletzlichkeit zeige und mich öffne, wird es unser Gegenüber auch tun. Okay, nicht alle, aber einige. Dadurch entsteht für mich Vertrauen, Nähe und emotionale Verbundenheit.
Es sind die Schwächen, Ängste und Zweifel des anderen mit denen ich mich identifizieren kann, weniger seine Stärken, sein Lebenslauf, seinen Beruf oder die Marke seiner Unterwäsche.
Die intimsten Dates, den intensivsten Sex, die schönsten Augenblicke und die größte Vertrautheit mit Frauen hatte ich, als ich mich verletzlich zeigte.
Machen wir uns verletzlich, versuchen wir nicht mehr, anderen etwas über uns vorzuenthalten. Wir versuchen nicht mehr, anderen ein bestimmtes Bild von uns zu vermitteln. Wir versuchen nicht mehr, andere zu beeindrucken.
Wenn wir uns also verletzlich zeigen, nehmen wir unsere Masken ab, da wir nichts mehr verstecken müssen. Dadurch verringern sich auch viele unserer Ängste und Minderwertigkeitsgefühle im Umgang mit anderen.
Viele Männer z.B. haben Probleme damit, fremde Frauen anzusprechen. Es fehlt ihnen an Verletzlichkeit. Gestehen sie sich ein, dass sie nervös sind, dass sie Angst haben, dass sie sich eventuell gleich zum Idioten machen und dass sie keine Kontrolle darüber haben, wie die Frau reagieren wird, können sie ihre Ansprechangst überwinden. Wollen sie hingegen furchtlos, cool und souverän sein, wird die Angst nur noch stärker. Das trifft übrigens auch auf Frauen zu.
Viele Frauen haben beim Sex Probleme sich fallen zu lassen. Auch ihnen fehlt es an Verletzlichkeit. Gestehen sie sich ein, dass sie nicht perfekt aussehen (wer tut das schon?), dass sie gerade die Kontrolle abgeben und dass sie von dem Mann verurteilt werden können, werden sie entspannter sein und sich mehr fallen lassen.
Frauen die sich verletzlich machen, genießen Sex mehr und haben leichter Orgasmen (dafür gibt es leider keine wissenschaftliche Quelle, du / ihr musst / müsst also meiner lächerlichen Erfahrung vertrauen).
Ich erinnere mich an eine Frau, die keinen Sex auf allen vieren wollte. Als ich sie fragte warum, war sie bestürzt. Nach geraumer Zeit vertraute sie mir an, dass sie sich auf allen vieren nicht sexy finde (was gibt es Schöneres und erregenderes als eine Frau auf allen vieren?). Als sie mir das anvertraute, verschwand ihre Scham fast automatisch und ab dem Moment liebte sie Sex auf allen vieren.
Verletzlichkeit macht uns stark und selbstsicher, weil es uns die Angst vor unseren Schattenseiten nimmt. Wenn wir zu unseren Schwächen und Ängsten stehen, fürchten wir uns weniger davor, von anderen dafür verurteilt zu werden.
Wenn ich mich verletzlich mache, öffne ich mich emotional, lerne meine Schattenseiten kennen, bin ehrlich zu mir selbst und mache mein Selbstbild nicht von anderen abhängig. Ich zeige mein Innerstes und kann damit leben, wenn es anderen nicht gefällt.
Mit diesem Thread mache ich mich gerade verletzlich. Ich zeige, was in mir vorgeht und jeder kann mich und meinen Beitrag öffentlich kritisieren. Natürlich wünsche ich mir, dass dir / euch der Beitrag gefällt. Doch tut er das nicht, kann ich damit leben. Ich muss weder dir / euch noch jemand anderem etwas beweisen.
Vor kurzem erhielt ich einen Anruf meines immer noch pubertierenden Sohnes, der mit seiner jetzigen Freundin keinen guten Sex hatte, da er sehr verunsichert ist. Er hat nur wenig sexuelle Erfahrung und seine Freundin war vor ihm mit einem erfahrenen Mann zusammen. Jetzt hat er Angst, es ihr nicht so gut (Wortlaut) „besorgen“ zu können wie der andere Typ. Auch hier ist der Schlüssel Verletzlichkeit.
Warum nicht die eigene Unsicherheit zugeben und offen darüber reden? Das würde sein Leistungsdruck verringern und die Intimität und die Vertrautheit schlagartig um 4125 Punkte erhöhen. Warum 4125 Punkte? Mir ist nichts Besseres eingefallen.
Ich sagte ihm, erzähle es ihr und sprich mit ihr darüber das du verunsichert bist. Als ich ihn dann nach Tagen wieder traf, hatte er ein breites Grinsen im Gesicht und ich wusste, die Verunsicherung ist weg.
Ich halte Verletzlichkeit für eine der wichtigsten Eigenschaften in der Liebe. Doch Verletzlichkeit betrifft letztendlich jegliche Art menschlicher Beziehung – auch die zu uns selbst.
Im Beruf muss ich das ein und andere Mal vor einer großen Menschenmenge reden. Meistens habe ich am Anfang öffentlich zugegeben, dass ich nervös bin. Danach war die Nervosität weg.
Der Schritt zu mehr Verletzlichkeit fällt uns jedoch schwer. Vielen Männern, (Sorry Jungs) weil es eine der größten männlichen Ängste ist, schwach zu wirken. Vielen Frauen geht es mittlerweile ähnlich. Die moderne Frau will unabhängig, eigenständig und zielstrebig wirken. Sich verletzlich zu zeigen, passt nicht zu ihrem Selbstbild. Leider haben inzwischen viele Frauen diese verzerrte Selbstbild. Männer wie auch Frauen erkennen die Selbstlüge hinter Ihrer Fassade nicht.
Frauen beschweren sich häufig, dass sich Männer emotional nicht öffnen. Doch wie ich für mich feststellen muss, sind es mittlerweile auch viele Frauen, die damit Probleme haben. Verletzlichkeit betrifft Männer wie auch Frauen, vor allem aber die Beziehung zwischen ihnen.
Erst wenn wir den Schritt wagen unsere Schwächen, Zweifel und Unsicherheit ehrlich und offen zuzugeben, werden wir unsere Masken abnehmen. Und erst dann entsteht wahre Intimität, Nähe und Vertrautheit. Für mich!
Wenn mir eine Frau den ganzen Abend erzählt, wie eigenständig sie ist, was sie alles erreicht hat und wie perfekt ihr Leben ist, landen wir metaphorisch gesehen, vielleicht am Ende des Abends im Bett. Doch das Gefühl, diesen Menschen zu kennen, das Gefühl, ihr nahe und verbunden zu sein, werde ich nicht haben.
Ähnlich wird es ihr ergehen. Vielleicht geht sie mit mir ins Bett. Weil ich interessant bin, weil wir Spaß haben oder weil sie Lust darauf hat. Doch mache ich mich nicht verletzlich, wird es kaum eine emotionale Bindung geben.
Verstehe Verletzlichkeit jedoch nicht falsch. Anderen die Ohren voll zu heulen und ihnen deine Probleme vor die Füße zu kotzen, ist keine Verletzlichkeit. Dich andauernd zu beschweren, weil dein Leben nicht wie in einem Disney-Märchen verläuft und vieles Mist ist, ist Opferdasein. Kenn sicher viele zu genüge.
Zwischen Opferdasein und Verletzlichkeit gibt es aber einen großen Unterschied.
Das Opfer belügt sich selbst, nörgelt, will Mitleid und hat nicht vor, etwas zu ändern. Bedauerlicherweise lernen wie immer mehr Menschen mit diesen Fähigkeiten kennen. Aber ein Mensch, der sich verletzlich macht, ist sich seinen Schwächen bewusst, akzeptiert diese und übernimmt dafür Verantwortung.
Je schwerer es dir fällt, dich verletzlich zu zeigen, desto größer ist deine Unsicherheit und deine Furcht, von anderen verurteilt zu werden und nicht in Ordnung zu sein. Doch in dem Augenblick, wo du dich verletzlich machst, schwindet gleichermaßen auch diese Furcht.
Verletzlichkeit ist keine Schwäche, sondern ein Ausdruck von etwas sehr Kostbarem, so wie feine Glas-Skulpturen. Oder sieh Dir die Mohnblumen an. Sie sind so verletzlich, dass - obwohl sie in kämpferischem Rot strahlen – sie sofort verblühen, wenn man sie pflückt. Dieses Zarte und Kostbare in uns wird gerne mal überspielt mit Tönen, die viel zu laut sind und Worten, die viel zu grob sind.
Es kann daher nicht schaden, ab und an rosa Kleidung (symbolisch) zu tragen. Dies signalisiert Zartheit.
Ich bin verletzlich und Frage in die Runde, wann fängst du / ihr an, dich / euch verletzlich zu zeigen?
p.s. Eine bitte an die Admins. Es wäre schön, wenn ihr es schaffen würdet, Kommentare die nicht zum Thema gehören, Anfeindungen weil eben anderer Meinung, (traurig das man dies inzwischen erwähnen muss), gleich zu unterbinden. Danke an dieser Stelle.