Steine
[Vorischt! Das ist keine erotische Geschichte. Sex gibt's auch nicht. Nur zwei Menschen die sich lieben.]Als er die Tür öffnete um aus der dunklen Einfahrt hinaus auf die Straße zu treten, blendete ihn die Sonne und er musste ein Hand schützend vor die Augen halten. Sonst wäre er in einen der vorübereilenden Passanten gelaufen. Ein kurzer Blick auf die Uhr an seinem Arm verriet es war noch genug Zeit um durch den stockenden Verkehr auf die andere Seite der Straße zu laufen und Blumen zu besorgen. Wenn er sie besuchen ging, brachte er immer etwas mit. Seine Wahl viel auf rote Gerbera. Ihre Lieblingsblumen. Rot war zwar nicht ihre Lieblingsfarbe, aber von allen Farben die der kleinen Laden verkaufte, hatten sie die kräftigste Ausstrahlung.
In der Straßenbahn konnte er durch das kleine Führerhäuschen hindurch sehen und folgte mit dem Blick den Schienen auf dem alten Kopfsteinpflaster. Sie zogen sich schnurrgerade bis zum Horizont. Dort, in weiter Ferne, trafen sie sich. Links und rechts kamen die Menschen aus ihren Häusern, gingen einkaufen, eilten von einem Termin zum nächsten und gingen ihrem Leben nach, während er an ihnen vorbei fuhr.
Hinten standen ein paar Schüler, die wohl auf dem Nachhauseweg waren. Mädchen und Jungen hatten sich in kleinen Güppchen an entgegensetzten Enden des Wagens zusammengefunden und beobachteten die jeweils andere Gruppe immer wieder mit versteckten Blicken. Sie dürften damals etwa im gleichen Alter gewesen sein, als sie sich das erste Mal sahen. Sie stand alleine auf dem Schulhof und er warf einen Stein in ihre Richtung. Warum er sowas bescheuertes getan hatte, daran konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Seine Freunde hinter ihm hatten jedenfalls gegrölt. Anstatt wie die anderen Mädchen wegzurennen oder gar zu weinen lief sie allerdings direkt zu ihm, bohrte ihm ihren Finger in die Brust und sagte laut:"Mach das ja nie wieder!". Daraufhin machte sie auf der Zehenspitze kehrt und stampfte davon. Zurück blieb nur ein verdutzter Junge, der ihr mit offenem Mund hinterherstarrte und seine schallend lachenden Freunde. Danach hatte er sie noch öfter auf dem Schulhof gesehen, aber sie war immer mit ihren Freundinnen zusammen und er hätte ohnehin nicht gewußt was er hätte sagen sollen. Irgendwann kamen die Sommerferien und sie kam auf eine weiterführende Schule. Während er noch ein weiteres Jahr zu absolvieren hatte.
Erst im Studium liefen sie sich wieder über den Weg. Er hatte sie sofort wieder erkannt als sie reinkam und sich ein paar Reihen vor ihn setzte. Vor der Vorlesung war sie immer in einer Traube von Menschen versteckt und es wurde viel gelacht und laut geredet. So vergingen zwei Semester in der sie ihn nicht bemerkte. Erst als er gegen Ende des Studiums auf eine Party geschleppt wurde, erkannte sie ihn. Sein Freund hatte ihn nur mitgenommen, da dieser auf der Party niemanden kannte und jemanden in der Cafeteria kennen gelernt hatte, den er wiedersehen wollte. Sobald die beiden sich gefunden hatten, waren sie auch schon in irgendeine dunkle Ecke verschwunden und er stand alleine da. Mit seinem Bier in der Hand lehnte er von aussen an die Tür eines Zimmers aus dem lautes Gelächter kam und schaute dem Treiben zu. Dort stand sie in der Mitte der Menge und erzählte wild gestikulierend irgendwelche wilden Geschichten. Er beobachtete sie bis sie irgendwann an ihm vorbei und aus dem Zimmer stürmte. Kurz hinter ihm blieb sie abrupt stehen, drehte sich um und fragte ungläubig:"Steineschmeisser?" So kamen sie ins Gespräch und blieben den Rest das Abends unter sich und redeten und redeten. In dem Moment wo sie sich verabschiedeten viel ihm zum ersten Mal auf wie aussergewöhnlich schön sie war.
Von da an waren sie unzertrennlich. Sie beendete ihr Studium vor ihm, fand recht schnell einen gut bezahlten Job und zog in eine große Wohnung. Als er mit seinem Studium fertig war fiel sie ihm um den Hals und gratulierte ihm enthusiastisch. Sie schien sich fast noch mehr zu freuen als er selbst. Wie sie so da standen, die Arme umeinander gelegt, versanken ihre Augen ineinander und sie küssten sie sich. Abends fragte sie ihn direkt ob er nicht bei ihr einziehen wolle. Da er sowieso schon die meiste Zeit dort verbrachte und auch ein Jobangebot in der Stadt hatte nahm er an. Ausserdem lag ihre Wohnung günstig und hatte eine Straßenbahnhaltestelle direkt vor der Tür.
Unter großem Tohuwabohu drängten sich die Kinder an ihm vorbei und stiegen aus. Er strich seinen Anzug zurecht. Es war der Beste den er hatte und er war auch gestern erst noch beim Friseur gewesen. Warum er sich nach so vielen Jahren immer noch soviel Aufwand machte wußte er nicht.
Als seine Haltestelle kam stieg er aus und knüpfte seine Jacke zu. Der Wind blies die golden-braunen Blätter über den Asphalt. Er zog seinen Hut ins Gesicht, hob einen Stein vom Straßenrand auf und betrat den Friedhof.