Ich habe mich neulich in einer solchen Situation das erste Mal getraut, zu konfrontieren. War mit einer Freundin in der Innenstadt von Essen, wir hatten gut was getrunken, und dann musste ich zum Bahnhof und sie zu der Stelle, wo ihr Auto stand und ihr Freund gleich mit dem Taxi ankommen würde, um sie und das Auto heimzuholen. Sie wollte mich noch zum Bahnhof begleiten oder dass wir zu ihrem Auto gehen, aber ich wollte möglichst schnell heim, damit ich die Straßenbahn in meiner Heimatstadt noch kriege, und hatte den Weg zum Bahnhof auch als recht belebt in Erinnerung. Also bin ich allein gegangen.
Irgendwo bin ich aber falsch abgebogen. Weil betrunken. Und dann war die Straße plötzlich dunkel und leer. Ich hatte noch eine ungefähre Vorstellung, wo ich bin und in welche Richtung ich musste, zumindest hoffte ich das. Gerade, als ich überlegte, ob ich jetzt doch mein Handy raushole und mir von Google verraten lasse, ob ich noch in die richtige Richtung gehe, rief mir von hinter mir jemand etwas zu. Hey! Du!
Ich ging schneller. Die Nacht, die eben noch mein Freund gewesen war, war auf einmal gefährlich, und das fand ich scheiße, weil meine Freundin und ich wirklich einen coolen Abend hatten. Ich dachte tatsächlich auch mindestens so sehr an das Geld in meinem Portemonnaie wie an sexuelle Belästigung. Der Typ schloss tatsächlich zu mir auf, sagte irgendwas ... und dann, als ich nicht reagierte, sondern einfach zügig weiterging, kam diese selten dämliche Frage: "Do you speak English?" Keine Ahnung, warum Leute immer wieder damit anfangen, wenn sie ein Gespräch erzwingen wollen. Vielleicht, um damit eine Defensive aufzubauen, vielleicht, weil es eine der Fragen ist, die man normalerweise mit Ja beantwortet ...
Ich wurde plötzlich sehr wütend und blieb stehen. Reckte mein Kinn, schaute ihn an. Wurde größer, ganz egal, ob er mir körperlich überlegen war. Mindestens zwei Schläge hätte ich ihm auch verpasst, wenn es hart auf hart gekommen wäre, und das hab ich ihm mit meinem Blick gesagt. Und dann, laut, mit der ganzen Stimmkraft einer früher mal im Schulchor ausgebildeten Sängerin: "ENTSCHULDIGUNG! ICH KENNE SIE NICHT! WAS GENAU WOLLEN SIE VON MIR?"
"Okay, okay", hat er gesagt und die Hände in einer beschwichtigenden Geste runterbewegt. "Ich habe verstanden."
Ich habe tief Luft geholt, genickt und bin dann weitergegangen. Etwas langsamer, aber immer noch zügig. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich nicht mehr das Gefühl, dass es meine Schuld ist, wenn jemand mir auf diese Weise blöd kommt.
Als nächstes schlossen dann zwei Männer zu mir auf, die mich gehört hatten und offenbar an einem mittelschweren Fall von White-Knight-Syndrom litten. Zunächst fand ich es nett, dass sie mich fragten, ob alles okay sei. Was das für ein komischer Typ gewesen sei. Wie es mir jetzt ginge ... Die erste Frage habe ich noch mit Ja beantwortet, aber dann habe ich mein Gehtempo auch wieder erhöht. Auf die letzte Frage, ob ich denn jetzt noch mit ihnen was trinken gehen wolle, bin ich nicht mehr eingegangen, da war zum Glück wieder belebteres Gebiet und ich habe meine Schritte Richtung Hauptbahnhof beschleunigt.
Ich bin dann noch gut und sicher nach Hause gekommen. Und es war für mich ein Anlass, noch mal darüber nachzudenken, was ich eigentlich für sinnvoll halte, um mich zu schützen.
*
Ehrlich gesagt möchte ich nicht so durch die Welt gehen, als ob sie ein gefährlicher Ort wäre. Oft zieht man genau das an, vor dem man sich fürchtet. Ich habe tatsächlich schon Übergriffe erlebt, sowohl in Partnerschaften wie auch an einem Mittwochnachmittag in einer vollen Straßenbahn oder an einem Sonntagnachmittag an einer Bushaltestelle in einem liebenswerten kleinen Ort auf einer Straße, auf der Menschen spazierengingen. Aber wenn ich deswegen jetzt anfange, mittwochnachmittags in der Straßenbahn und in Spaziergehstraßen für Rentner Pfefferspray und Schlüssel zwischen den Fingern zu schlagen ...
Wenn ich nicht mehr darauf vertrauen könnte, dass die Welt im Wesentlichen ein guter Ort wäre, würde ich auf ihr nicht mehr leben wollen.
Aber ja, Straßen bei Nacht können trotzdem bedrohlich sein. Oder sich bedrohlich anfühlen. Deswegen denke ich im Moment tatsächlich wieder mehr darüber nach, wie ich mich schützen kann. Was mich schützt.
Pfefferspray wäre tatsächlich nicht meins, Schlüssel auch nicht. Ich habe mal ein bisschen Kampfsport gemacht und weiß, dass ich im Ernstfall mit einem durchtrainierten Mann, der einen Kopf größer als ich ist, nicht mithalten kann. Wenn der will (egal, ob bewaffnet oder nicht), dann ringt der mich zu Boden. Sogar, wenn ich ein Trainingsmesser in der Hand habe und nach ihm stechen will, sogar, wenn ich Techniken dafür gelernt habe.
Ich sehe auch nicht ein, dass ich einen schwarzen Gürtel in Karate brauche, um mich auf dieser Welt sicher fühlen zu dürfen. Es gibt so etwas wie einen gesellschaftlichen Vertrag und einen Rechtsstaat. Diese Prinzipien besagen, dass ich das Recht habe, mich sicher zu fühlen, auch dann, wenn ich dick und untrainiert bin. Es sind Prinzipien, bei denen eigentlich alle Menschen hier der Meinung sind, dass sie gelten.
Deswegen, und das ist der Punkt, auf den ich immer wieder komme, bietet mir mein Vertrauen auf diese Prinzipien tatsächlich den größten Schutz. Der Typ, von dem ich hier erzählt habe, hat sich verpisst. Weil ich unter Verweis auf diese Konventionen ("Entschuldigung") klargestellt habe, dass ich verwirrt bin ("Ich kenne SIE nicht") und von ihm eine Erklärung möchte, die diesen Konventionen entspricht ("Was wollen Sie von mir?"). Ich habe nach den Regeln für tagsüber gespielt, wenn man höflich und distanziert miteinander umgeht, und damit habe ich seine Regeln für einsame Straße nachts (Mann läuft Mädchen/Frau hinterher und nimmt Körperkontakt auf und sie verkrampft sich und kriegt Angst und verstummt oder ist höflich) ignoriert. Ich habe gesagt: Es gibt Regeln zwischen Menschen, Höflichkeit, Sie, Distanz unter Fremden, und ich erwarte, dass du sie auch mir gegenüber einhältst.
So schützen mich die Regeln der Welt. Nicht, weil niemand sie bricht, sondern weil ich kraft meines Intellekts fähig bin, Menschen an ihre Existenz zu erinnern.
Und ... weil ... weil ich tief in mir weiß, dass ich wild und grausam genug bin, einem Feind mit meinen Zähnen die Kehle rauszufetzen und mir mit seinem Blut eine Kriegsbemalung ins Gesicht zu zeichnen. Würde ich nicht tun. Wahrscheinlich. Ich bin ja zivilisiert. Das zeige ich ja mit meinem Verhalten und meinem Verweis auf die Regeln der Höflichkeit. Aber ... wer Lust dazu hat, mit mir nach weniger zivilisierten Regeln zu spielen, wie dieser Mann ... dann kann ich das ja ruhig zeigen. Dieses klammheimliche innere Verlangen: Ich könnte dich ausweiden und dein Blut spritzen sehen, Sterblicher. Komm mir falsch, dann tu ich es vielleicht. Ich hab keine Ahnung, wie, aber ich werde es tun, und wenn ich Jahre brauche, um den richtigen Moment herbeizuführen.
Ich bin gefährlicher als Pfefferspray. Nicht körperlich. Aber ich bin es. Und mit diesem Wissen ...
Werde ich auch weiterhin nachts durch die Straßen gehen, selbst wenn es zu Situationen kommen kann, die sich im ersten Moment und auch danach noch bedrohlich anfühlen. Denn ich habe ein Recht auf diese Welt und darauf, mich in ihr zu bewegen. Ich bin ein Teil von ihr. Und wenn ich mich der Mühe und Höflichkeit unterziehe, zivilisiert zu bleiben, statt meine Feinde mit Zähnen und Klingen zu zerfetzen, dann kann ich das von meinem Gegenüber auch erwarten. Und ihm das genau so durch Körpersprache, Subtext und verbales Einhalten von Kommunikationskonventionen mitteilen.