Das Festival
Ich glaube, du bist die Mühe wert.
Die Worte verfolgten Sina. Sie verdrängte sie und dachte erneut daran. Es fühlte sich so falsch an, und doch erschreckend richtig. Beinah so, als wäre sie und das, was sie mit ihrer verdrehten Form des Fühlens darstellte, etwas Wertvolles. Dabei war das völlig unmöglich!
Am Wochenende fuhr sie mit Kilian auf das Festival. Die Motorradfahrt machte Spaß, wie immer, wenn sie mit ihm unterwegs war. Sie reisten mit kleinem Gepäck, trotzdem hatte jeder sein eigenes Zelt dabei. So war es sicherer. Irgendwie. Es konnte freundschaftlich bleiben. Wenn Sina jemandem begegnete, bei dem sie Lust auf ein Abenteuer hatte, würde es nicht zu Komplikationen zwischen ihr und Kilian führen. Auf der zugewiesenen Wiese bauten sie ihre Zelte zügig und schweigend auf.
Das Festival bestand aus zwei Wiesen und etwa zweihundert Leuten. Es gab eine kleine Bühne, einen Getränkestand und eine Zelttaverne. Dazu zwei Stände mit selbstgemachtem Schmuck, ein Tätowierzelt und einige Sonnensegel, unter denen es Teppiche und Kissen gab. Alles war so klein und familiär, dass man im Grunde die Veranstalter kennen musste, um überhaupt davon zu erfahren. Im Spätsommerschein war es der perfekte Ort, um zu entspannen und das Leben zu genießen.
„Danke, dass du mich mitgenommen hast“, sagte Sina, plötzlich von Schüchternheit erfüllt. Dieser Ort war so anders als die Metal-Events, auf denen sie sonst mit ihm abhing, und auch anders als die Küche. Irgendwie schien es hier keine Vorgabe dafür zu geben, wie man sich benehmen sollte, um cool zu sein. Das verunsicherte sie.
„Wollen wir uns erst mal was zu trinken holen?“ Er strahlte etwas Warmes und Liebevolles aus. Irgendwie fühlte sich die Atmosphäre zwischen ihnen heute wärmer und näher als sonst an.
„Gibt es keine Freunde von dir, die du erst mal begrüßen willst?“
Er schüttelte den Kopf. „Außer den Veranstaltern kenne ich niemand, und die sehen dahinten ziemlich beschäftigt aus.“ Er wies mit dem Kinn in eine Richtung, in der eine Frau mit Locks konzentriert mit einem Mann im weißen T-Shirt diskutierte.
„Dann bist du meinetwegen hier?“ Sina lachte verblüfft auf.
„Irgendwie schon.“ Er grinste. „Wenn du nicht mitgekommen wärst, wäre ich wohl zu Hause geblieben. Und das wäre schade, es sieht hier sehr gemütlich aus.“
Sie holten sich jeder eine Flasche Bio-Limo und setzten sich unter einem der Sonnensegel auf einen Teppich. Die Schuhe ließen sie wie alle anderen auf dem Rasen daneben.
Sina war noch nie zuvor auf so einem Event gewesen. Es war schwer, das Gefühl in Worte zu fassen. Sie fühlte sich auf seltsame Weise frei, aber nicht, um gegen irgendeine Form von äußerer Vorschrift zu rebellieren oder sich selbst zu beweisen, dass sie niemandem außer sich selbst gehörte. Alles schien so bunt, so friedlich, so gemütlich und kreativ, dass es keine Regeln gab, die sie in irgendeine Form pressten. Doch darin lag nichts Leeres oder Kaltes, sondern eine Wärme, die sie mit herrlichem Frieden erfüllte.
Zusammen mit dem Sonnenlicht sickerte eine träge Behaglichkeit durch das Zeltdach und füllte Sina aus. Irgendwann schloss sie die Augen und lehnte sich nach hinten, sank auf eins der Kissen, von denen sie nicht wusste, wem sie gehörten und wer sie dorthin gelegt hatte. Es schien nicht nötig, diese Frage zu stellen. Alles war gut. Sie war in Sicherheit.
Irgendwann schlug sie die Augen auf. Die Sonne stand immer noch über dem Zeltdach, aber es war kühler geworden. Sina griff nach ihrer Handtasche, die an Ort und Stelle war, und blickte sich um. Kilian saß nach wie vor neben ihr.
„Aufgewacht, Schlafmütze?“, fragte er liebevoll.
Sie gähnte und hielt sich hastig den Handrücken vor den Mund. „Tut mir leid, ich … Ich bin heute wohl keine besonders spannende Begleiterin.“
„Was könnte spannender sein, als an so einem schönen Ort behaglich einzuschlummern und genauso behaglich wieder aufzuwachen?“
Sie gähnte noch einmal und räkelte sich. Er hatte recht. Es war ja nicht so, dass sie durch ihren Schlummer etwas verpasst hätte. Im Gegenteil. Wenn sie nach Hause kam und sich an das Festival erinnerte, dann wären dieses friedliche Einschlafen und das zufriedene Aufwachen ein Teil des Glücks eines solchen Wochenende.
„Hier ist es echt ganz anders als sonst“, sagte sie zufrieden. „Wollen wir ein wenig rumgehen und schauen, was wir sonst noch finden?“
„Sehr gern.“ Er half ihr beim Aufstehen.
Sina nahm ihre Schuhe in die Hand, um barfuß über die schöne Wiese zu gehen, und sie betrachteten die Schmuckstände. Ein Ring gefiel ihr besonders gut. Die Verkäuferin erklärte, dass sie die Ringe selbst aus reinem Silber goss, in Formen, in denen im Original winzige Blätter aus der Natur verwendet wurden. Sina kaufte den Ring mit dem schimmernden, opalisierenden Stein in der Mitte und erfreute sich an seinen rauen Oberflächen, die das Metall in einzigartiger Weise schimmern ließen. Nicht ganz billig, aber einzigartig.
Sie sahen einer Tänzerin zu, die zur Musikbegleitung ein Gemälde erstellte, und betrachteten die Entwürfe der Tätowiererinnen. In einem weiteren Zelt stand eine Pole-Stange, an der eine als Fee verkleidete Lufttänzerin akrobatische Kunststücke vollführte, bei denen Sina der Atem stockte. Alles wirkte so natürlich, so entspannt und vollkommen normal! Und doch war es eine Traumwelt, die weiter vom Alltag entfernt war als alles, was Sina je zuvor erlebt hatte.
„Gib es zu“, sagte sie schließlich zu Kilian. „Du hast mich mit hergenommen, damit ich nicht wieder so einen Unfug mache wie auf unserem letzten Konzert.“
„Mit einem Fremden abstürzen?“ Er lächelte.
„So ungefähr.“ Sie war verlegen. Die Stunden an diesem Ort hatten sie spüren lassen, dass mit ihren immer krasser werdenden Exzessen etwas nicht stimmen konnte. Sie hatte die Abenteuer gebraucht, um sich frei zu fühlen. Gemessen an dem hier fühlte es sich jedoch nicht mehr an wie Freiheit, sondern wie etwas Dunkles, Kaltes und Bedrohliches.
„Von mir aus mach es wieder.“
„Du scherzt doch.“
„Wenn du schon abstürzen musst, dann tu es wenigstens auf eine Weise, die sicher für dich ist. Und hinterher kommst du zu mir, damit du nicht ganz tief abstürzt.“
„Kilian … Ich … Ich mach das nicht mehr, okay? Ich höre auf damit.“
„Ist es das, was du willst?“
Sie sah ihn hilflos an.
„Wir machen es so“, bestimmte er. „Heute Abend, wenn es dunkel wird, wenn überall die Feuer brennen und alle etwas betrunken sind … dann ziehst du los und suchst dir zwei Typen zum Rumschmusen. Nacheinander oder gleichzeitig, wie es ergibt. Du kannst sie knutschen oder es lassen, aber jeder von ihnen soll mindestens einmal deine Brüste anfassen. Einer von ihnen wird dich zum Höhepunkt bringen, der andere nicht.“
Sina starrte ihn an.