Die Idee
Als Sina noch in die Schule gegangen war, war Louise ihre beste Freundin gewesen. Sie hatten miteinander das Knutschen geübt und eine Zeitlang sogar geglaubt, dass sie lesbisch waren, weil sie einander so sehr liebten.
Nach viel Internetrecherche hatten sie diese Theorie angepasst: Sie waren polyamor und bisexuell, denn abgesehen von der jeweils anderen fanden sie Frauen sexuell uninteressant. Stattdessen verliebten sie sich ständig in Jungs, später in Männer, und konnten stundenlang darüber reden, wie sexy und begehrenswert diese waren.
Sina und Louise hatten schon früh mitbekommen, dass es in der Gesellschaft so etwas wie Regeln für anständige Mädchen und Frauen gab. Sex nur aus Liebe, nicht zu viele Typen daten …
Wie alle Teenager hatten sie das Bedürfnis gehabt, gegen dumme Regeln zu rebellieren. Es hatte harmlos angefangen: Ein Wettbewerb bei der Scheunenparty im Nachbardorf, wer an einem Abend die meisten Telefonnummern abgreifen konnte. Dann ein Abend in der Disco in der Großstadt, bei dem es darum ging, die meisten Typen zu knutschen. Sina hatte mit vier gegen drei gewonnen.
Im Lauf der Zeit war daraus ein Spiel geworden, wer den coolsten One-Night-Stand erleben konnte. Vorher eine Einladung ins teure Restaurant? Edel! Über die Mauer in den Garten einer Villa geklettert und dort im Gartenpavillon zur Sache gekommen? Mutig! Den Bassisten einer aufstrebenden Band nach dem Auftritt im Backstage vernascht, evt. gar nur durch einen Vorhang vom Rest der Backstage-Leute getrennt? Legendär!
Nach dem Abitur waren ihre Wege allmählich auseinander geglitten. Sina war in eine andere Stadt gezogen, um die bestmögliche Ausbildung für ihren Weg nach ganz oben zu bekommen. Louise hatte sich für eine Ausbildung zur Ergotherapeutin entschieden. An dieser Stelle hatten sie zum ersten Mal gemerkt, wie grundverschieden sie eigentlich waren.
Trotzdem blieben sie verbunden. Mehrmals im Jahr telefonierten sie, und wenn Sina in ihre Heimatstadt kam, tranken sie miteinander Kaffee. Manchmal besuchte Louise sie, und dann tranken sie Sekt mit tiefgekühlten Früchten. In diesen Nächten war es, als hätten sie sich nie aus den Augen verloren, und sie zeichneten mit Filzstift Bilder von Penisformen auf die Rückseite von Rechnungen, um über die Vor- und Nachteile beim Eindringen in verschiedenen Stellungen zu diskutieren.
Doch auch Louise hatte nie von Sinas devoten, zutiefst hingebungsvollen Fantasien erfahren. Bis heute. Sina brauchte jemanden, mit dem sie darüber reden konnte. Es unterschied sich zu sehr von allem, was sie sonst war und wie sie sich selbst sehen wollte.
*
„Klingt wirklich krass“, sagte Louise. „Ich brauch jetzt entweder mehr Kaffee oder mehr Alkohol.“
„Ein Fall für Irish Coffee.“ Sina lachte. Sie fühlte sich stocknüchtern und unglaublich überdreht. „Ganz ehrlich, Louise, was soll ich denn jetzt tun? Ich hab Shades of Grey gelesen, aber so was will ich nicht. Ich bin doch eine starke Frau! Ich will keinen Millionär, der sich als der totale Retter aufspielt und mir in jeder Hinsicht überlegen ist. Oder sich zumindest einredet, es zu sein. Und ich bin auch keine studentische Jungfrau mit Retter-Syndrom! Ich will einfach nur guten Sex, bei dem sich jemand über meinen Willen hinwegsetzt.“
Louise überlegte „Wenn du ein Mann wärst, könntest du dafür einfach zur Domina gehen.“
Sina zögerte. Sie wollte zunächst ablehnen. „Eine Domina ist doch eine Wunscherfüllerin. Sie erfüllt einem Typen all seine versauten Wünsche. Aber das ist doch genau das, was ich nicht will, verstehst du? Ich will niemanden, der mir meine Wünsche erfüllt, sondern das Gegenteil davon!“
„Eine gute Domina könnte bestimmt machen, dass es sich anfühlt wie das Gegenteil.“
Sina zögerte. Sie konnte nicht greifen, warum ihr der Gedanke nicht gefiel. „Ich steh aber nicht auf Frauen“, sagte sie stattdessen. „Also, abgesehen von dir natürlich, Süße.“
„Es gibt bestimmt auch männliche Dominas. Wir müssen nur mal im Internet danach suchen. Wie nennt man so jemanden? Dominus?“
„Wahrscheinlich.“
„Leisten könntest du es dir. Du verdienst mehr als genug. Wenn so was dich glücklich macht, warum gönnst du es dir nicht einfach? Du hast doch immer gewusst, wie du bekommst, was du wirklich haben willst.“
Sinas Herz klopfte schneller. Ihr Bauch kribbelte, und zum ersten Mal war es keine Schüchternheit mehr bei dem Thema, sondern Erregung. „Ich könnte einen Mann dafür bezahlen, dass er mich beherrscht, klar. Das wäre kein Ding. Aber was wäre, wenn stattdessen er mich bezahlt?“
„Der Dominus soll dich dafür bezahlen, dass er dich dominieren darf?“ Louise krauste die Stirn und füllte Gin in ihre Gläser nach. Mehr Gin als Tonic, dieses Mal, das Tonic war so gut wie alle.
„Kein Profi, Mensch! Ganz normale Männer.“
In Louises Augen keimte Verstehen auf. „Du meinst das ernst, ja?“
„Wenn er mich dafür bezahlt … dann weiß ich wenigstens, dass seine Wünsche von ihm kommen. Dass es nicht wieder nur ein Langweiler ist, der sich so sehr darauf konzentriert, mich zu befriedigen, dass er all seine eigenen Wünsche komplett unter den Tisch fallen lässt.“
„Und was hast du vor? Willst du dir einen billigen Minirock kaufen und dich an den Straßenstrich stellen?“
Sina überlegte. Ein winziges Bisschen kickte die Vorstellung sie, musste sie zugeben. Aber zum größten Teil stieß die Vorstellung sie ab. „Zu einem Fremden ins Auto steigen und nicht wissen, was passiert und was er mit mir vorhat, ist als Idee tatsächlich heiß. Aber wenn ich mir überlege, dass er wahrscheinlich einfach nur einen Blowjob und Ficken will … Hm … Irgendwie ist mir das zu langweilig.“
„Außerdem weißt du nicht, ob er an dem Tag geduscht hat. Oder am Tag davor.“
„Igitt!“ Sina quietschte auf. „Okay, Süße, ich versprech dir, dass ich mich niemals einfach so an den Straßenstrich stellen werde. Egal, wie sehr mich die Vorstellung kickt, dass jemand mich für das bezahlt, was er will und mit dem Geld meinen Willen außer Kraft setzt.“
„Das hast du nicht nötig. Du verdienst doch mehr als genug! Guck dich um, wie deine Wohnung eingerichtet ist. Echtholz und Naturstein, und dazu ein riesiger Balkon und Badewanne.“
„Das meine ich damit doch gar nicht! Das Geld … ist nur ein Symbol.“
„Wofür?“
„Für seinen Willen. Er hat mir Geld gegeben. Oder er gibt es mir. Und damit hat er sichergestellt, dass es für mich fair ist. Also wird er sich beim Ficken nicht mehr darum kümmern, was ich wollen könnte. Dann geht es nur noch um ihn und darum, was er will. Er darf es einfordern und durchsetzen.“
„Und das kickt dich?“ In Louises Blick lag immer noch etwas Unverständnis.
Sina horchte in sich hinein. Unter ihrem Bauchnabel, ganz tief in ihrem Innern, brannte es. Das Brennen zog sich nach unten, zwischen ihre Beine, und ließ ihre Brüste kribbeln. Die Nippel drückten spürbar gegen den Stoff.
„Vielleicht“, sagte Sina und gab sich Mühe, es beiläufig klingen zu lassen. „Aber ist schon ziemlich schräg, du hast Recht.“
„Such doch lieber erst mal im Internet auf irgendeiner Plattform einen netten Typen, der Lust auf solche Rollenspiele hat. Gibt doch heute für jeden das Richtige.“
Sina nickte zustimmend. „Danke für den Tipp. Ist wahrscheinlich gesünder so.“
Louise betrachtete sie besorgt. „Irgendwie mache ich mir gerade ein wenig Sorgen um dich, Süße. Ist alles gut bei dir? Oder hast du noch andere Probleme, von denen ich wissen sollte?“
„Alles gut.“ Sina lächelte liebevoll. „Wahrscheinlich ist das nur eine von diesen sexuellen Fantasien, die man manchmal hat. Jetzt, wo ich dir davon erzählt habe, lässt es schon wieder nach. Vielleicht mache ich wirklich einfach irgendwann mal ein Rollenspiel daraus, wenn ich den richtigen Typen dafür gefunden habe.“
Doch Sina wusste genau, dass sie keine Lust auf Rollenspiele hatte. Das wäre doch auch bloß wieder so ein So-Tun-Als-Ob, bei dem ein Typ genau das umsetzte und tat, was sie sich von ihm gewünscht hatte …
… Fortsetzung folgt …