Gerade weil Loyalität und Verlässlichkeit/Versprechungen (gerne in Verbindung gebracht mit Selbstlosigkeit) so ehrwürdige, in unserer Gesellschaft hoch gehandelte Eigenschaften sind, tragen es viele wie Monstranzen vor sich her, um sich moralisch schadfrei zu halten (denn wer ist schon selbstlos?). So erlebe zumindest ich das häufig.
Was genau ich damit meine, veranschaulicht vielleicht ein klassisches aus meiner Sicht geschildertes Beispiel (der Einfachheit halber nicht gegendert, was nicht bedeutet, dass das Beispiel nicht genauso für weibliche Zeitgenossinnen gilt):
Verheirateter Familienvater hat sexuelle Bedürfnisse, die er innerhalb seiner Ehe nicht ausleben kann. Da er Loyalität und Verlässlichkeit NICHT automatisch mit Selbstlosigkeit in Verbindung bringt (m.E. grundsätzlich richtig), sucht er Erfüllung außerhalb.
Das alleine ist noch nicht moralisch verwerflich. Erst mit der Verheimlichung des Bedürfnis-Auslebens und der damit einhergehenden Vermeidung, die Bedingungen des Eheversprechens zusammen mit dem „Vertragspartner“ zu hinterfragen, beginnen für mich Loyalität und Verlässlichkeit (also quasi die Vertragstreue) zu schwanken.
Was ich nun häufig beobachte, ist folgendes: um Auseinandersetzungen und mögliche Kompromisse oder sogar Verzicht der Bedürfnisbefriedigung zu vermeiden, wird an den ursprünglichen „Vertragsbedingungen“ festgehalten, ohne kund zu tun, dass sie einseitig verändert werden. Daraus wird ein Paket geschnürt aus vermeintlicher Loyalität (weil man ja zum Partner und zur Familie steht und immer zurückkehrt), Verlässlichkeit (weil man den ursprünglichen Bedingungen und Versprechungen vordergründig Folge leistet) und Schutz (weil man das „Mobile des Familiensystems“ nicht ins Ungleichgewicht bringt und verhindert, dass alle im System sich bewegen müssen). Daraus abgeleitet wird dann die moralische Verträglichkeit des eigenen Handelns, da man ja insgesamt für Stabilität in Beziehung und Familie sorgt, INDEM man seine Bedürfnisse nicht unterdrückt, sondern sie zum Schutz aller Beteiligten im Verborgenen auslebt. Dabei werden dann „Gewichtsumschichtungen“ unternommen: die Übererfüllung einzelner Vertragsklauseln (z.B. der Extra-Blumenstrauß, der Extra-Familienausflug…) zur Kompensation der Vertragsbrüchigkeit der einen Klausel (z.B. körperliche Treue).
Also ja, aus meiner Sicht sind Loyalität und Verlässlichkeit in dem Moment illusorisch und werden dann als moralische Ausreden missbraucht, wenn die Erfüllbarkeit dieser wahrlich bewundernswerten Eigenschaften nicht konstant und selbstkritisch hinterfragt und offen diskutiert wird.