Sabine. Oder: Verrechnung mit Baiser
Vor der Bank aus Waschbeton beim Alten Haus liegen wie ausgekotzt Dönerreste, an denen sich eine Taube und drei Spatzen bedienen, als die Fontäne im Theatersee unvermittelt wie ein dümmlich künstlicher Geysir in die Höhe schießt, nur um sofort wieder zu versiegen. Dazu kommt die Sonne flach und schwach hinter Haufenwolken hervor und das grünliche Wasser beginnt versöhnlich golden zu schimmern - Enten, Gänse und Schwäne sind keine da. Von Westen weht ein kalter Wind, der erste Herbststurm ist angekündigt.
Ich bin die Königstraße einmal hoch- und einmal runtergelaufen und habe nicht eine Frau gesehen, die mir zugesagt hätte. Konfektionierter Konformismus sowohl was die Läden angeht und es egal ist, ob man sich in Hamburg, Düsseldorf, Berlin, München oder eben wie ich in Stuttgart befindet, als auch was die Passanten betrifft. Etwas anderes als weiße Sneakers, hautenge Blue Jeans mit hochgeschlagenen Hosenbeinen und schwarzen Blousons plus einem Handy in der Hand scheint es nicht mehr zu geben. - Da! Sogar Disney-World hat aufgeschlagen: Ein Riesenrad steht im Hof des Neuen Schlosses, ein ehedem stolzer Bau, Versailles nachgeeifert, jetzt zur unpassenden, unzeitgemäßen Theaterkulisse erniedrigt.
Ich suche die Anlaufstellen, die ich vor 30 Jahren hatte, als ich hier ein paar Semester studiert habe, die persönlichen Pilgerstätten zur Aufrechterhaltung meines gefährdeten Egos, doch es gibt sie schlicht und ergreifend nicht mehr.
Die Lerche, ein Hifi- und Schallplattenladen, hat sich überlebt. Der Spielwaren-Kurtz, das Eldorado für Kinderträume, ausgeträumt. Die Buchhandlung von Wendelin Niedlich, der mir alle Bücher von Blaise Pascal geschenkt hat (so sehr mich das damals gefreut hat, so sohr fühle ich mich heute mitschuldig, dass er wirtschaftlich den Bach runter ist), mit der von ihm selbst eingerichteten Friedrich-Wolf-Gedenkstätte im Keller - alles ausgeräumt für einen Adventure-Outdoor-Store, der schon wieder pleite ist, kaum dass er geöffnet hatte.
Vermutlich ist genau das das Alter: Mit mir selbst halte ich ich immer noch die gleiche Zwiesprache wie vor 30 Jahren, nichts hat sich verändert, ich bin immer noch gleich jung, alt oder einfach ich - doch die angestammte Welt von damals wird zusehends leergeräumt: Mit Mitte 50 sind schon etliche Weggefährten für immer gegangen, genauso wie Häuser, Farben, Blumen. Man nimmt nicht selber Abschied, die Welt entzieht sich einem vielmehr, sie verstößt einen, das ist es: Es wird einfach leer um einen rum. Die unweigerliche Folge: Man fühlt sich leer.
In der Kronprinzstraße ist ein weiß-roter GT3 vor meinem silbergrauen Skyline mit H-Kennzeichen geparkt worden - einen anderen untrüglichen Beleg meiner Niederlage brauche ich nicht mehr ...
Ich habe den Eindruck, dass dort, wo im Neokortex meine Erinnerungen gespeichert sind, liegt bloß noch ein schwer drückendes Geröll von Versteinerungen, denen ich die Treue halte - eine Loyalität, die freilich nur frustet, weil dieses Geröll eine einzige Last ist.
Letzter Versuch: ein Gang durch das Dreifarbenhaus. Schätzungsweise gerade mal ein Viertel der Zimmer ist offen, nicht weil im Rest hinter verschlossenen Türen gerammelt wird, was das Zeug hält, sondern wegen Corona. Surreal: Bikini-Mädchen in High Heels mit vorwiegend schwarzen FFP2-Masken.
Wer um Himmels willen steht auf rumänische Mädchen, an denen nichts dran ist und denen bäuerische, wenn auch liebenswerte Einfalt ins Gesicht geschrieben steht?
Sabine. Sabine wird immer ein Mädchen in meiner Erinnerung bleiben - klar, auch sie für immer in mir versteinert. Sie war meine Freundin, als ich hier studiert habe, noch eine Schülerin, die sich weniger mit dem Schulstoff für das Abi abgab als der Anstrengung nach dreimal Durchrasseln endlich die praktische Fahrprüfung zu bestehen und damit zu den Erwachsenen zu gehören.
Unabhängig davon wollte sie von zu Hause raus, aus der Enge, aus dem Mief. Und ich wollte meinen Hunger nach Fleisch stillen - also zogen wir zusammen. Ob es romantisch war, nicht mal Bettzeug zu haben? - Hmmm ...
Jedenfalls verkomplizierte unser Zusammenziehen, -leben alles. Noch wollte ich mir damals nicht eingestehen, dass ich der geborene Junggeselle bin, ein Alleingänger, ein Klausner, ein Anachoret, ein erbärmlicher Lüstling auch - am Schlimmsten war für mich, dass dieses Mit-diesem-Mädchen-leben, mich befremdete. Es war nicht, was ich wollte. Auch wenn ich schwankte, nolens volens. Dieses ehe-ähnliche Dingens und Erwachsensein-Spielen war eine Art von Dasein, Sosein, für das ich nicht bestimmt war/bin. Leider gestand ich es mir damals noch nicht ein. Doch es belastete mich jeden Tag mehr. Sie - das junge Mädchen - ließ mich feststellen, dass ich noch überhaupt kein Mann war. Schändlich. Peinlich,
Für das, was wir für Liebe hielten, für ein bohemehaftes, künstlerisches Leben schienen wir wie gemacht, aber nicht für den Alltag, zumal wenn an jeder Ecke das Geld fehlte.
Heute weiß ich, dass Sabine einen Ankerplatz brauchte. Eine Sicherheit. Jemanden, der ihr sagte, wo's lang ging. Aber ich konnte damals so wenig erziehen oder als leuchtendes Beispiel vorangehen wie heute. Ich gestehe: Ich bin kein Dom! Aber nicht, weil ich mich selbst nicht an der Kantarre nehmen kann, sondern weil ich andere nicht an die Kantarre nehmen will - darum kann und will ich mich nicht kümmern. Es ist wie bei Hendrix - im übertragenen Sinn: Ich will Gitarre spielen, der Typ am Bass und der Schlagzeuger müssen schon selber wissen, was sie zu machen haben oder wollen ... ich bin also für uneingeschräntke Freiheit, wenn's passt, dann passt's, sonst ist alles nichts.
Sabine wurde mit mir im Lauf der Zeit, kurzer Zeit, immer unglücklicher. Ich saß über Büchern, Hausarbeiten, Referaten und und und ... hatte einen angefüllten, ausgefüllten Kopf ... und sie litt an einem Übermaß an Freiheit. Von zu Hause war sie gewohnt, dass man ihr sagte, was sie tun sollte. Während ich sagte, tu doch, was du willst. Die Freiheit, dieser ungeheure, unermessliche Raum zur Gestaltung verlor sich in ihr und bedrohte sie. Sie war wie in einem Ozean der Leere mit der Hoffnung auf eine Insel, die ich nicht war. Landlos, ohne Ankerplatz, ohne Hafen war sie im Begriff unterzugehen. Was nutzten da schon die allnächtlichen Stürme der Lust, wenn die Gischt ihres Überdrusses, die Flaute durch Langeweile ganze Tage bestimmten?
Mag sein, dass ich als Wegweiser in ihr Leben gestellt wurde, doch ich konnte sie nicht auf einen Weg treiben. So führte ich sie in die Leere, das Absurde, die Irre.
Für eine Zeit füllte Liebe freilich diese Leere. Zumal Sabines Sinnlichkeit erwachte ... und wie. Ihr Verlangen, begehrt zu werden, wurde maßlos. "Fick mich!", war eine der harmlosesten Aufforderungen. Doch es reichte, micht mitzureißen. Ihre Haut brannte, ihre Schenkel wurden zu Flügeln, ihr Vulva zu meinem Ankerplatz. - War für ein Reiz! Was für ein Atem! Was für Gerüche! Was für Verschmelzungen!
Was hatten dazu billige schnelle Ficks auf Rücksitzen, Parkbänken, Discotoiletten gegen diese von uns erlebte und zelebrierte alles erschüpfende Verführung mit der Aneinanderreihung von Sekunden, Aneinanderkettung von Minuten, Stunden, ja von Zeit an sich, quasi schon eine Verführung in Ewigkeit, eine Verfickung des ganzen Lebens in jedem Moment zu bieten? - Yep. Nichts.
Und doch war das, was wir uns erobert hatten, zu wenig. Sie begann auf meine Bücher eifersüchtig zu werden. Sabine entführte mich ins Bett, ich hingegen schaffte es nicht, sie in Bezirke zu entführen, zu denen sie den Weg nicht fand, für Reiche, in die ich sie nicht entführen konnte.
Wohl ist früher oder später jede Lebensform bloß noch eine Lüge, aber unsere beiden waren nicht vereinbar.
Blöd war ich. Nahm mich selbst zu wichtig. Damals schon nichts als ein verdorrter Birnenkeimling. Im Dickicht von Buchstaben und Schriften sah ich nicht mehr, dass mir über allem Sabine sozusagen als Sonne leuchtete und mir den Weg aus dem Schatten und dem leblosen Staub zeigte. Ein Wunder. Das Wunder der Liebe, das ich nicht würdigte. Da war ein Mädchen, das mich liebte - doch mir war ein beschissener Schein mit einer Eins wichtiger ... ungeachtet der Tatsache, dass sie allein mir dazu verhalf - so gewogen, beschwingt, leicht war ich später nie mehr ...
Eine Karriere nahm ihren Lauf. Unsere Umarmungen wurden weniger innig. Dann wurden sie kürzer. Schließlich gab es keine mehr und jeder ging seiner Wege.
Sie schrieb mir, ich sei ein schwarzes Licht. In ihrem Leben existiere keine Sonne. Liebe sei eine Täuschung.
Dann fand sie einen mit befehlender Stimme, einen, der ihr sagte, was sie machen sollte. Denn wichtiger als zu lieben, war für sie zu wissen, wohin sie gehörte. Wie daheim. Und daheim ist, wenn einem einer sagt, was zu tun ist und wo's lang geht.
Sie begann dann zu saufen. Sie wurde regelrecht blöd im Hirn vom Alkohol. Dann lallte sie. Dann tropfte Spucke unkontrolliert aus ihrem Mund. Sie schrie: "Ich hasse dich!" Und sie schrie: "Ich liebe dich!" - Ich war auf dem Absprung nach München. Wollte ich um sie kämpfen? - Nein. Ich war froh, sie los zu sein.
Vom Suff kam sie zum Hasch. Vom Hasch zu H. Dann bekam sie Aids, als wir uns schon aus den Augen verloren hatten.
Apropos Ozean der Leere. Komischerweise ist sie vor Sansibar an Herzschwäche gestorben. Zu ihrer Beerdigung bin ich nicht gegangen. Auch ihr Vater war nicht da, wie ich später erfuhr. Zum Beweis, dass ich ein Arschloch bin: Nur um dem Alten eine reinzuwürgen wäre ich zu Sabines Beerdigung gegangen, wenn ich es gewusst hätte.
Heute wo ich in Stuttgart bin, habe ich, bevor ich in die Stadt (d. h. Innenstadt mit Königstraße) gefahren bin, ihr Grab auf dem Waldfriedhof besuchen wollen - aber die Laufzeit ist schon seit 10 Jahren abgelaufen, wie mir jemand von der Verwaltung erläuterte, jetzt liegt in Sabines Grab jemand ganz anderes.
In diesen Gedanken verloren, habe ich mich auf die Stufen des Königbaus gesetzt, mit zwei "Schäumla" in einer Tüte, die ich wie damals beim Café Nast erstanden habe, eine für Sabine, eine für mich. Auf der Tüte steht: "A Schäumle a day, keeps the trouble away!" - und zwei Schäumla?