Zunächst einmal ganz lieben Dank an alle, die hier seine /Ihre Sichtweisen vorgetragen haben.
Es war kurz nach Mitternacht, ich sitze auf meiner Couch und lächle in die Stille hinein. Es ist mein Geburtstag. Wieder ein Lebensjahr vorbei,ein neues beginnt.
Inzwischen kann ich Geschichten erzählen, die mit „Vor zehn Jahren“ beginnen oder manchmal auch mit „Als ich in Deinem Alter war“ (kommt übrigens besonders gut bei Freunden, die nur ein paar Monate jünger sind als ich) – und sie handeln erschreckenderweise trotzdem nicht von der Sandkasten-Liebe oder meinen Schulzeiten, sondern von meinem Erwachsenen-Leben samt eigener Steuernummer, Rentenversicherung und erster grauer Haare.
Ich kann von Träumen erzählen, die ich einmal hatte. Träume, von denen sich einige erfüllten, und von anderen, die zerplatzten wie fette, klebrige Kaugummiblasen – plopp! – mitten in meinem Gesicht.
Heute Nacht kommt einiges hoch, ist einiges da, um Inventur zu machen. Meine Lebens-Entscheidungen stehen vor mir wie aufgereiht in einem Regal. Manche rücke ich ganz nach vorne in die erste Reihe, weil sie dekorativ sind und was hermachen. Andere schiebe ich lieber ganz nach hinten, weil sie nicht so hübsch sind und niemand sie unbedingt gleich sehen soll. Die ich vielleicht sogar selbst nicht so gerne sehe.
Bestimmt kennt ihr diese Art der Rückschau, die Inventur, die wohl jeder von uns ab und zu mal macht, egal wie viele Kerzen auf dem Geburtstagskuchen brennen. Da ist das „Hätte ich doch mal…“, genau wie das „O Gott, wie konnte ich bloß…“.
In Gedanken erinnere ich mich an ein Zitat des Autors Pink, der einmal sagte, "Was sollen wir nun machen mit diesem etwas klebrigen Gefühl?" Zunächst einmal sollte sich jeder von der Vorstellung lösen, dass es gut wäre, nichts bereuen zu müssen. Reue / Bereuen, meiner Meinung, ist ein oft falsch verstandenen Gefühl. Ich entscheide mich, dass die einzigen Menschen, die keine Reue oder das Bereuen verspüren, Menschen sein müssen, die einen Hirnschaden erlitten haben oder unter neurodegenerativen Erkrankungen leiden. Gewagte These, doch bei näherer Betrachtung, gar nicht so abwegig.
Da sind die falschen Frauen (oder Männer), die einem das Herz aus der Brust gerissen haben – was man doch eigentlich hätte von vornherein erahnen müssen. Die Herzen, die man selbst vielleicht gebrochen hat. Da sind die falschen Abzweigungen, die falschen Worte zur falschen Zeit, die kurzen Momente der Unachtsamkeit, in denen man die Welt eines anderen verletzt hat. Da sind die Dinge, die sich im Kopf viel besser angefühlt haben als in der Realität.
Reue zu empfinden bedeutet eben nicht, dass jemand ein negativeres Mindset hat als seine Mitmenschen, die seltener etwas bereuen. Wie damit umgegangen wird, ist auch eine Typfrage. Manche Personen sind kopflastiger, andere weniger. Wer mehr grübelt, zerpflückt Dinge vielleicht mehr, aber hier kann aber auch der Lerneffekt größer sein. Zumindest empfinde ich die so bei mir.
Wie die große Karriere, die man sich schon als Kindergartenkind ausgemalt hat. Auf die man jahrelang hingeackert hat. Für die man auf so vieles verzichtet hat. Die das Konto und das Ego tatsächlich prall gemacht hat – allerdings auf Kosten der Gesundheit und des Privatlebens. Die fette Karriere, die sich einsam anfühlt, wenn man als Letzter im Büro sitzt oder alleine unterm Weihnachtsbaum.
Oder wie die Beziehungen, die wie im buntesten Hollywood-Märchen begann und ein paar Jahre später in einem wortkargen Schwarz/ Weiß-Kammerspiel endet (oder schlimmer noch: im Horrorfilm).
Die Reue an sich ist psychologisch mittlerweile aus meiner Sicht sehr positiv zu beurteilen. Die neuere Forschung besagt, dass uns Reue im Leben weiterbringt – diesem Gedanken schließe ich mich an. Reue ist für mich ein sehr starker Entwicklungsmotor, vor allem dann, wenn Reue intensiv empfunden wird. Das kann dazu führen, dass man große Bereiche im Leben noch einmal komplett umkrempelt. Ohne das Gefühl tiefer Reue würde man das wohl möglich gar nie tun
Es kommt daher meiner Meinung nach immer darauf an, was man mit der Reue /Bereuen macht. Alle Menschen können im Leben noch allerhand ändern. Ich kann etwas zurechtrücken, Unstimmigkeiten aus alten Beziehungen klären etc. Schlecht ist natürlich, wenn jemand aufgrund von Reue in eine Paralyse kommt. Damit meine ich, dass man aus der Reue nicht mehr herauskommt und so handlungsunfähig wird. Das wiederum empfinde ich für mich wiederum nicht und ist auch nicht meine Intention von bereuen.
Wie kann ein Mensch eine Entscheidung treffen, wenn er bereits vorab Angst vor möglicher Reue hat?
Ich glaube, dass man vor einer Entscheidung nicht mehr tun kann, als Kopf und Bauch in Einklang zu bringen – niemals nur Kopfentscheidungen oder reine Bauchentscheidungen treffen, das gehört immer zusammen. Was sagt mir mein Gefühl? Dann denke ich die Sache aber auch noch durch. Hinter so einer getroffenen Entscheidung kann ich dann auch wirklich stehen. „Das hätte ich wissen müssen. Das hätte ich ahnen können.“
Mit solchen Äußerungen zu uns selbst nehmen wir alle manchmal etwas Zuviel auf uns. Manchmal gibt es ein Informationsdefizit, das halt einfach da ist, wenn der andere z.B. schweigt. Nicht alles kann man vorab wissen, jede Entscheidung birgt eben auch ein Risiko. Wir leben in einer Zeit, die auch ihre Unsicherheiten birgt, das kann Angst noch fördern. Auch das ist nicht meine Welt. Angst war schon immer ein Arschloch……wenn ich das mal so sagen darf.
Manche Menschen haben eine Kontrollillusion. Sie gehen davon aus, dass es die einzig richtige Entscheidung gibt und diese müssen sie finden. Das ist eine Illusion, weil man ja nicht wissen kann, wie sich die Dinge in Zukunft entwickeln werden.
Zweifel und Bedauern spielen für mich eine wesentliche Rolle beim Lernen, für den Erkenntnisgewinn und die persönliche Weiterentwicklung. Zwar ist die Beschäftigung mit verpassten Chancen und falschen Entscheidungen im ersten Moment schmerzhaft – langfristig verhilft sie mir aber zu mehr Zufriedenheit, weil sie mein Bewusstsein für zukünftige Situationen schärft.
Weil Reue, das bereuen überhaupt erst durch gelebtes Leben entstehen kann, versteht wohl jeder, denn wer sich nicht vom Fleck bewegt, tritt auch nicht daneben. Kommt aber letzten Endes auch nicht voran.
Die richtige Dosis „Ach, hätt‘ ich nur… macht es wohl aus.
Also rücke ich meine Gläser im Regal zurecht, erlaube auch den hässlicheren ein Plätzchen weiter vorne. All die Dummheiten und Unachtsamkeiten, die Kurzschlüsse, über die ich heute nur den Kopf schütteln kann. Indem ich sie sehe, erinnere ich mich daran, wer ich sein will – und wer nicht. Und das ist eigentlich gar kein so furchtbares Gefühl, wie ich noch zu Anfang dieser Nacht dachte.
Ich gehe hinüber zum Plattenspieler und lege mir mein Geburtstagsständchen auf "30 Seconds To Mars - The Kill."