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Ene mene miste

****na Frau
1.281 Beiträge
Themenersteller 
Ene mene miste
.
Spurlos ging sie im letzten Februar verloren: die kleine Silberschatulle, die ihr die Mutter bei der Beerdigung mit den Worten gegeben hatte: „Alles, was von Oma bleibt.“ Sie suchte überall, aber die Schatulle mit der Muschel vom Strand in Christiansand blieb verschwunden.
Die Tote hinter der Glasscheibe hatte sie im ersten Moment an Schneewittchen erinnert, bis sie erkannte, dass diese Frau uralt war und wohl für immer schlief. Kaum noch ähnelte sie der Großmutter, wie sie das Kind seit ihrem Besuch letztes Jahr in Erinnerung behalten hatte. Auf dem Rückweg vom Friedhof erklärte der Onkel, ohne Zähne und mit geschlossenen Augen sei ein toter Mensch nicht wiederzuerkennen. Wer der Oma das Gebiss weggenommen habe und warum, hatte sie gefragt, der Onkel aber nur mit den Achseln gezuckt, sie huckepack zum nächsten Schmuckgeschäft getragen, wo er ihr eine silberne Kette mit einem Aquamarin-Anhänger gekauft hatte.
„Für die schönsten Flitterwochen“, hatte ihr Mann gesagt und die Muschel von seiner Hand in ihre Jackentasche gleiten lassen. Sie waren am Strand gestanden und hatten auf die Fähre gewartet. Fast hätten sie geweint auf dem Schiff, als sie zurückblickten zum norwegischen Festland. Wochen später fand sie die Muschel in ihrer Jacke und legte sie in die Schatulle zu der Kette mit dem Aquamarin.

„Hast du die Oma-Dose eingepackt?“
„Warum sollte ich?“ Sie faltet den nächsten Karton zusammen, steckt den Kopf hinein, auch die Schultern und den Oberkörper. Der 16. Umzug, die 7. Stadt.
„Nimmst du die Marmelade?“, ruft sie in die Pappe.
„Nein, ich will sie nicht“, antwortet er.

Wie friedlich die fremde Frau hinter der Glasscheibe gelegen hatte, die Hände auf dem Bauch gefaltet, ein paar Härchen auf der Oberlippe, die Wangen bleich. Kaum, dass sich der dürre Körper unter den Kleidern wölbte. Sie sah nach oben zu den Köpfen der Erwachsenen, Mutter und Tante weinten, da weinte auch sie.

„Was machst du in dem Karton?“
„Mich verstecken.“
„Wovor?“
„Schicksalsschlägen.“
„Eine Scheidung ist kein Schicksalsschlag.“
„Eine Hochzeit auch nicht.“

Im Jahr vor ihrem Tod hatte die Großmutter ihre Kinder im Westen reihum besucht. Zum ersten und zum letzten Mal war sie Enkelin. Sie liebte die alte Frau, schon bevor die mit dem Zug am Bahnhof ankam, sich zu ihr hinunterbeugte, um sie zu küssen. Diese Oma roch nicht nach Mottenkugeln, küsste trocken und zart, war eine, mit der man in der Schule angeben konnte, obwohl sie aus der Zone kam.

In ihren gebückten Ohren saust das Blut. Den halben Körper im Karton kommt sie mit ihm in die Senkrechte, geht in die Richtung, wo sie den Mann vermutet, und sagt: „Kannst du bitte ein Vorsicht-Zerbrechlich-Etikett draufkleben?“
„Was soll das kindische Theater?“ Er hebt den Karton hoch, schaut sie an. „Wir beginnen beide ein neues Leben – das ist doch was Gutes.“
„Ich habe dich nicht geheiratet, um jetzt ohne dich das hundertste neue Leben zu beginnen. Wir sind nicht in dieses Haus gezogen, haben die verdammten Brombeeren gepflanzt und gefühlte fünfhundert Stunden alle Wände gestrichen, um Jahre später den Nachmietern zehn Gläser Marmelade zu hinterlassen, die du nicht mitnimmst, nur weil ich sie eingekocht habe und du sogar noch von unserer Marmelade Abstand brauchst! Ein neues Leben zu beginnen, ist nicht per se was Gutes, du …“
„Nur zu, sag es!“
„… Arschloch!“

Zwei Wochen konnte die Oma bleiben, ihre Mutter hatte sich Urlaub genommen, die Großmutter gesagt: „Wir drei Frauen werden eine schöne Zeit haben.“ Dafür, dass die Oma sie kein einziges Mal als Kind bezeichnete, würde sie ihr alle Heiligenbildchen schenken, die sie in der Schule für Fleiß und Achtsamkeit bekommen hatte.

Vor ein paar Wochen, als sie in Vorbereitung der Scheidung den ehelichen Erinnerungsfundus abgeglichen hatten, sagte er: „In den Flitterwochen hast du angefangen zu nörgeln. Ich fand Norwegen nicht schön“. Sie hatte ihre Hände in die Ritzen zwischen die Sofakissen gepresst, versucht, weiter zu atmen, zu glauben, dass dieser Satz seine Rache dafür war, dass sie sich von ihm trennte. Wenn es überhaupt einen Moment gab, in dem sie ihm gerne ein Messer in den Bauch gerammt hätte, dann der, als er ihr Norwegen mit einem Satz genommen hatte.

Am dritten Tag ihres Besuchs hatte ihr die Oma gezeigt, wie sie verhindern konnte, dass ihr auf dem Weg in den Mund die Zahnpasta von der Bürste ins Waschbecken fällt. Eine alte rechte Hand mit braunen Pigmentflecken hatte ihre Kinderhand umfasst, in der sie die Zahnbürste mit lose sitzender Paste hielt; eine alte linke Hand hatte dann einen kleinen Kinderfinger genommen und damit die Creme in die Borsten gedrückt.
„Jetzt kannst du die Zahnbürste sogar nach unten drehen, ohne dass die Paste runterfällt“, hatte ihr die Oma ins Ohr geflüstert und sie auf die Wange geküsst. Seither glaubte sie an einfache Lösungen für schwierige Probleme.

„Du hast gelogen!“ ruft sie ihm hinterher. Er geht in die Küche. Sie sieht, wie er die Gläser mit Brombeermarmelade auf die Anrichte zu ihrem Geschirr stellt. Auf eine einzelne Provokation antwortet er nicht; ihr Vorwurf perlt von ihm ab wie Wasser von Plastik.
„Entweder damals oder vor ein paar Wochen!“ Von der Küche geht er weiter durch ins Wohnzimmer, in dem die Kartons mit seinen Sachen stehen. Sein Umzugsunternehmen kommt morgen, ihre Leute vier Tage später.

Am fünften Oma-Tag wollte die Mutter mit ihrer Mutter allein sein. Man schickte das Kind auf die Straße zum Spielen. Bis zum Mittagessen sollte es fernbleiben. Nach einer Weile traf sie zwei andere Kinder in einer Querstraße. Deren Mütter machten Hausputz und hatten die „Blagen“ runtergeschickt, um freie Bahn zu haben. Manfred und Sylvia wollten nicht Vater-Mutter-Kind spielen, und sie besaß keine Schusser, um in den laufenden Wettkampf der beiden einzusteigen. Elisabeth trollte sich Richtung Park, um dort einen Blumenstrauß für die Großmutter zu pflücken.

„Du hältst dich für einen, der keinem wehtun kann. Aber du irrst dich. An deiner Lüge klebt irgendwann auch dein Blut.“
„Jetzt ist nicht die Zeit für so ein Gespräch“, fertigt er sie ab.
„Niemals, wenn es nach dir geht“, blafft sie in seinen Rücken.
„Ich weiß nicht, was du mit Lüge meinst! Ich fand Norwegen eben nicht toll. Basta!“ Sein „Basta“ trifft sie ins Mark. Tränen fluten ihre Augen. Sie schwankt einen Moment, greift neben sich zur Anrichte. Während sie weint und schreit, er könne seine „scheiß Norwegenerinnerung“ von ihr aus zum täglichen Nachtgebet machen, aber nur, wenn sie die Schatulle mit der Muschel und der Aquamarin-Kette finde, wirft sie, ohne es zu merken, ein Glas Brombeermarmelade nach dem anderen in seine Richtung. Kurz wundert sie sich über das Fehlen eines Geräusches, das für sie zwingend zu einer Szene gehört, in der Dinge durch einen geschlossenen Raum fliegen. Erst nach dem letzten Glas und einem Griff ins Leere merkt sie, dass er sich kein einziges Mal weggeduckt, sondern alle Gläser gefangen hat. Keines ist hinter ihm an der Wand zerschellt, kein Knall hat ihre Tirade unterbrochen, stattdessen steht die Marmelade jetzt nicht mehr auf der Anrichte neben ihr, sondern auf einem seiner Umzugskartons: fünf Reihen à zwei Gläser.

Gänseblümchen, Butterblumen, Kamillenblüten – mehr hatte sie auf der großen Parkwiese nicht finden können. Auch ohne Uhr wusste sie, dass es längst noch nicht Mittagszeit war, aber sie wollte Mutter und Großmutter nicht lange stören, nur kurz die Blumen überreichen, Freude bereiten. Vor der Haustür hatte sie den Strauß in zwei Hälften geteilt, nur der Großmutter Blumen zu bringen, wäre ihr unhöflich erschienen. Mit hinterm Rücken versteckten Armen war sie vor der Tür gestanden, nachdem sie mit dem Kinn den Klingelschalter gedrückt hatte. Die Schritte der Mutter waren unverkennbar. Sie hatte die Tür geöffnet und ohne zu zögern die Tochter rechts und links geohrfeigt.
„Du solltest erst zum Mittagessen kommen!“ Das Mädchen hatte vor Schreck zu weinen begonnen, gleichzeitig hinter der Mutter die Oma wahrgenommen, in deren Gesicht sich ihr eigenes Entsetzen spiegelte. Wortlos hatte sie die Hände mit den Blumen nach vorne gestreckt, beide Sträuße auf die Fußmatte fallen gelassen und war zurück auf die Straße gerannt.

Sie mussten beide lachen.
„Auf der Reflexebene waren wir immer ein Team“, sagt sie und wischt sich die Tränen weg.
„Wann hast du deine Oma-Dose das letzte Mal gesehen?“
„Vergangenen Februar.“
„Tut mir leid – das mit Norwegen.“
„Die Muschel vor unserer Abfahrt nach Dänemark – du hast gesagt: ʹfür die schönsten Flitterwochenʹ. Entweder waren sie schön oder nicht.“ Er atmet tief ein und lange aus.
„Lass – ich will es nicht wissen. Aber ich will die Muschel und die Kette und die Schatulle. Jetzt.“
„Letzten Februar haben wir unsere Arbeitszimmer getauscht. In meinem steht immer noch ein grüner…“
„…Karton von mir auf dem Fensterbrett!“

„Du hast sie gerecht aufgeteilt“, hatte die Großmutter gesagt, als sie auf deren Schoß saß und ihren Blick Richtung Fensterbrett lenkte, auf dem zwei kleine Vasen standen. Die Mutter hatte der Mutter befohlen, ihre Blumen von der Fußmatte aufzusammeln.
„Damit ihr euch beide gleich freut.“
„Ich habe mich sehr über deine Blumen gefreut und deine Mutter auch. Sie hat es schwer im Moment.“
„Immer. Aber nicht wegen mir.“
„Ich weiß, Liebchen, bist ein braves Kind.“
„Blumen bringe ich ihr keine mehr!“
„Überleg dir das nochmal. Wenn sich deine Mutter freut, dann ist es leichter für sie.“

Die letzten Tage, bis auch ihre Möbel verladen werden, verbringen sie gemeinsam im halbleeren Haus. Jede Stunde, jede Nacht, mit der die räumliche Trennung näher rückt, näht wie von Zauberhand einen Beziehungsriss nach dem anderen. Wie vor Jahren flüstern sie wieder miteinander im Dunkeln, jeder zweite Satz beginnt mit „Weißt du noch…“

„Wann kommst du wieder Oma?“ Die alte dünne Frau beugte sich zu ihr hinunter, küsste sie auf die Stirn und sagte: „Vielleicht kommst du mich das nächste Mal besuchen“. Als der Zug langsam anfuhr, das Kind in der Entfernung den Kopf der Großmutter von den anderen Fensterköpfen nicht mehr unterscheiden konnte, schaute sie nach oben zur Mutter, die weinte.

Gerade noch rechtzeitig erreichen sie den Bahnhof. Es ist dunkel, nur ein schmaler Streifen zur Bahnsteigkante ist freigeräumt vom Schnee, der sich hinter ihnen brusthoch auftürmt.
„Deine künftige Heimat“, sagt er mit einem Lächeln, das scheitert.
„Und da kommt die Bergbahn“, presst sie bei der Einfahrt des ICE heraus.
„Wir schaffen das!“
„Ja.“
.

© Ozeana (2013)
****02 Paar
23.079 Beiträge
Novemberdepression und Grau in Grau.
*traurig*
Jo
@****na

Immer wieder fein, deine Nuancen zu lesen.

Dankeschön für‘s teilen!
Die Geschichte holt in mir gerade Erinnerungen an viele Momente hoch, in denen ich die Welt nicht verstanden habe.
Als Kind und auch als Erwachsene.

Deswegen lieber *blumenschenk* als ein "danke dafür".
Liebe @****na

Ich bin ein KleineDosenSammler und bis auf eine sind Alle leer. In dieser Porzellandose mit einem sehr feinen, persischen Pfauenmotiv in blau und Gold ist etwas Kokosbutter. Manchmal gebe ich noch einen Tropfen Rosenwasser, Lorbeer- oder Rosmarinöl dazu. Einer silbernen Jugendstil Schnupftabakdose werde ich immer nachtrauern. Ich konnte mich nicht überwinden sie zu klauen. Sie gehörte Niemand und jetzt ist sie weg - für immer.
Das erinnert mich an einen nassen Novembermorgen. Ich fuhr hinter einem Laster her, der in akrobatischer Verantwortungslosigkeit durch eine viel zu schmale Landstraße donnerte und Wolken von aufgescheuchtem Wasser und weißen Federn hinter sich herzog. Die Hühner aus dem Hühner-KZ, die er geladen hatte, kommen in der Großschlachterei schon fertig gerupft und gekühlt an - nur tot sind sie noch nicht.
Plötzlich flog ein ganzes Huhn durch die Luft, flatterte hilflos bevor es am Straßenrand aufschlug und ich fuhr weiter. Ich hatte es noch eiliger als der Laster. Ich dachte, das Huhn verscheißt mir das ganze Auto, wenn ich es mitnehme und außerdem wird die Ausstellungseröffnung, über die ich berichten wollte, vorbei sein, wenn ich jetzt auch noch umkehre um ein halbfertig gerupftes Huhn aufzusammeln. Als ich nach der Vernissage zurück kam, war das Huhn weg.
Seither muss ich immer wenn ich auf dieser Straße fahre an dieses Huhn denken, seit mindestens zwanzig Jahren. Ich hätte ein Holzhäuschen im Garten bauen können. So ein Huhn kostet ab Hühner-KZ kaum einen Euro, ist also nahezu wertlos. Ich esse Hühner, Kälber, Schweine, Rinder, Lämmer, Tauben, Fische oder Muscheln und Krebse, das ist nicht die Frage. Nur dieses eine Huhn hätte ich mitnehmen und bei mir wohnen lassen sollen. Wir hätten ein schönes Leben miteinander gehabt, wären Freunde geworden und ich hätte geweint, wenn es gestorben wäre. Vor Allem aber hätte ich einem missachtetem Huhn das mir vor die Füße geworfen wurde, die Achtung entgegengebracht, die es verdient und könnte mir dafür ein paar Sünden vergeben.

Danke Ozeana, dass Du mir gezeigt hast, dass meine Dosen gar nicht leer sind, sondern voller Erinnerungen.
@*********htar
Das ist wirklich das Beste, was ich je von dir gelesen habe.

Und ich schäme mich bis heute, dass ich auf der Autofahrt durch's nächtliche Tbilisi den Fahrer (immerhin meinen Ex-Mann) nicht zum Anhalten bewegt habe.
Um nachzusehen, welchem Tier der Todesschrei entwichen war.

Im "Tiere erlösen" bin ich nämlich leider, leider sehr gut.
Aber das versteht kaum jemand.
*g*
*********enTe Frau
1.588 Beiträge
Dein Wortwerk tröstet mich. Wie wohltuend Stellvertreter manchmal sein können.
Du hast eine wunderschöne Gabe, Ozeana, du berührst Menschen in ihrem Inneren.
Mich. Immer wieder.
**********ddler Mann
49 Beiträge
Erneut eine schöne, eine melancholisch-schöne Geschchte und:
"ein Lächeln, das scheitert" ist einfach sensationell!
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