196.
„Ist was passiert, Mark?“
Er blickt auf die Uhr.
„Passt noch. Wir haben gleich einen Zoom mit dem Anwalt.“
Simon kommt mit einem Kumpel angerannt und nimmt Hannah das Köfferchen ab, während der Kumpel den von Nahid nimmt. Ich küsse meine Frauen und folge Mark in Toms Haus. Sarah wirft mir ein Headset zu.
„Willkommen zurück. Du hast noch drei Minuten.“
„Worum geht es denn?“
„Gestern war Prozessauftakt und der Anwalt einer Versicherung hat einen Vergleich angeboten.“
„Da bin ich gespannt, wie viel sie zahlen wollen.“
Hundertachtzig Sekunden können lang werden, wenn man darauf wartet, dass sie vorbei sind. Endlich sehen wir den Anwalt auf dem Bildschirm.
„Guten Morgen, oder besser guten Abend. Wir haben nicht viel Zeit, ich muss in zwanzig Minuten im Gerichtssaal sein.“
„Guten Morgen“, begrüßen wir ihn.
„Man hat Ihnen einen Vergleich angeboten?“, führe ich das Gespräch allein fort, womit ich ihm zeige, dass ich der Entscheidungsträger bin.
„Die BYB hat für die 322 Policen eine Summe von hundert Millionen angeboten.“
„Das sind ja fünfundsechzig Millionen unter Wert?“
„Es ist auch erst das erste Angebot. Der Anwalt dürfte auf Provisionsbasis arbeiten und an jedem Dollar unter einer bestimmten Summe verdienen.“
„Wie hoch schätzen Sie die Summe?“
„Hundertfünfzig Millionen.“
Hört sich nach einer guten Einschätzung an. Die Versicherung spart fünfzehn Millionen, plus alles, was der Anwalt herausholt. Die Provision schätze ich auf zehn bis zwanzig Prozent. Mit zehn Million dürfte sie siebenstellig und für ihn interessant sein.
„Wir gehen nicht tiefer als hundertvierzig“, antworte ich nach kurzem Überlegen.
„Gut, dann habe ich eine Verhandlungsbasis.“
„Was ist mit der anderen Versicherung?“
„Wenn sie hört, dass wir einen Vergleich mit der BYB gemacht haben, bekommen sie möglicherweise kalte Füße.“
„O.K. Warten Sie einen Moment.“
Ich stelle den Ton ab.
„Wenn es klappt, sind nur noch 470 Policen offen“, meldet sich Mark zu Wort.
„Verkaufen wir kein Fell, wenn der Bär noch im Wald herumrennt“, bremse ich die Vorfreude.
„Zumindest lässt sich jetzt ihre Taktik erahnen. Zwanzig Millionen einsparen ist eine gute Motivation“, antwortet Mark und zieht die Augenbrauen hoch.
„Du vermutest also, die andere Versicherung verfolgt die gleiche Taktik?“
„Selbst neunzig Cent für den Dollar ist bei ihnen eine riesige Summe.“
„Sie spekulieren also auf einen fetten Bonus?“
„Wäre ein nicht unübliches Vorgehen bei einer großen Versicherung.“
Ich schalte den Ton wieder ein.
„Wenn Sie den Deal hinbekommen, machen Sie den Leuten von der BYB klar, dass er nur zustande kommt, wenn die andere Versicherung die gleichen Konditionen akzeptiert.“
„Interessante Taktik, die beiden Parteien ins gleiche Boot zu setzen.“
„Geben Sie ihr Bestes.“
Obwohl ich von der langen Reise erschöpft bin, ist an Schlaf jetzt nicht mehr zu denken. Dazu sind wir zu neugierig darauf, was die Verhandlungen des Anwalts ergeben. Wir packen Getränke ein und errichten am Strand ein Lagerfeuer. Um uns abzulenken, erzählen wir Anekdoten unserer gemeinsamen Zeit und als uns die Themen ausgehen, was wir getrennt voneinander erlebt haben. Die Sonne ist gerade dabei aufzugehen, als Mark eine Nachricht vom Anwalt bekommt. Wir gehen zurück ins Haus und stellen die Verbindung her.
„Wie laufen die Verhandlungen?“, frage ich ungeduldig.
„Sie würden achtzig Cent pro Dollar akzeptieren.“
„BYB oder beide?“
„Beide.“
„Das sind achtzig Million Schwund“, flüstere ich meinen Freunden zu.
„Und die Alternative?“, fragt Tom.
„Wie schätzen Sie die Erfolgschancen des Prozesses ein?“
„Letztlich werden Sie zahlen müssen. Die Frage ist, wann?“
„Ihre negativste Prognose?“
„Mehrere Jahre.“
„Das würde den Startpunkt der Verjährungsfrist hinauszögern“, flüstere ich.
Meine Freunde tauschen Blicke aus, dann antwortet Sarah für sie.
„Scheiß auf achtzig Millionen.“
Ich nicke.
„Sehen Sie Spielraum für ein besseres Angebot?“
„Nein, mein Gefühl sagt mir, es ist ihre Schmerzgrenze.“
„Dann teilen Sie den Herrschaften mit, ist das Geld nicht in sieben Tagen auf unserem Konto, ist der Handel hinfällig.“
„Das dürfte eine gute Motivation sein“, antwortet er schmunzelnd.
„Sobald das Geld eingegangen ist, überweisen Sie alles auf das gewohnte Konto, außer ihr Gehalt und lösen dann die Reederei auf.“
„Die Auflösung der Reederei poste ich dann wie verabredet auf der Webseite?“
„Ja. Ich klicke dann dort auf den Link, damit die Seite vierundzwanzig Stunden später offline geht.“
„Es war mir eine Ehre, mit Ihnen Geschäfte zu machen.“
„Dito.“
Nachdem Tom den Computer ausgeschaltet hat, klatschen wir uns ab. Jetzt müssen wir nur noch die Frauen an den Mann bringen, dann haben wir etwa zwei Milliarden ergaunert, ohne dass jemand umgekommen ist. Fünf Jahre darf niemand daran zweifeln, dass die Veronika durch ein Unwetter gesunken ist, dann können sie uns nicht einmal mehr etwas anhaben, wenn sie es danach herausfinden. Noch ist es zu früh für Champagner, aber wir sind auf einem guten Weg dahin. Jetzt ist das Einzige, was noch schief gehen kann, dass eine Sklavin abhaut und sich an ihren früheren Namen erinnern kann. Aber selbst dann muss man erst einmal eine Spur zu uns finden. Diese zu vernichten ist eine unserer Spezialitäten. Sobald die Reederei aufgelöst worden ist, geschieht das Gleiche mit dem Konto, auf das der Anwalt das Geld überwiesen hat. Bis wir alle Frauen verkauft haben, wird man nicht einmal mehr nachweisen können, dass es jemals existiert hat. Jetzt wo die Anspannung vorbei ist, spüre ich die schlaflose Nacht. Ich möchte Nahid nicht wecken, deshalb gehe ich auf die Mata Hari und mache es mir auf meiner Liege bequem. Während ich einschlafe, plane ich, was ich in den über vier Jahren alles mit Nahid und Hannah unternehmen möchte, bis die Sache verjährt ist. Es wird nicht viele Kinder wie sie geben, die so viel von der Welt gesehen haben, wenn sie schulpflichtig werden. Davon träumend, wie ich meinen Frauen die Welt zeige, schlafe ich ein.