Wie meinen sie das, Herr Professor Freud?
@la ama:
Verehrteste
la ama, zunächst einmal ein Dankeschön, für diese, wie mir
scheint, recht emotionelle Reaktion auf meinen Beitrag.
Im Übrigen möchte ich dir zu deinen Ausführungen über Politiker
vorbehaltlos Recht geben, da auch ich der Meinung bin, dass vielen
Politiker jedes Stilmittel recht ist, wenn sie sich nur irgendeinen Vorteil
davon versprechen, oder zumindest glauben, die von ihnen gewünschte
Aufmerksamkeit damit erregen zu können.
Freud im Freud-Gedenkjahr zu zitieren und die darin enthaltene Aussage
in einer selbstgefälligen Art und Weise zu interpretieren gehört da
sicherlich dazu.
@**e freudianer und all die anderen:
(Nachtrag, beziehungsweise Kommentar, zu meinem vorigen Beitrag.)
Am vergangenen Wochenende stolperte ich eher zufällig in einer
Tageszeitung über besagtes Freud-Zitat:
"Die Abwesenheit des Schamgefühls ist ein sicheres Zeichen von Schwachsinn."
Gefallen ist dieses Zitat im Zuge eines offenen Leserbriefes, bei dem der
Autor - den immerhin ein Doktortitel schmückte - sich über die so schamlos
zur Schau gestellte Freizügigkeit der Protagonisten des Wiener Lifeballs
beschwerte und darin - sinngemäß - den kulturellen Niedergang des
Abendlandes zu sehen glaubte.
Nun stellt sich die Frage, hat der große Psychoanalytiker Freud, diesen
Satz tatsächlich so gemeint, dass man ihn bedenkenlos in dem oben
genannten Zusammenhang verwenden, ihn am Ende sogar als Bestätigung
für solche Aussagen sehen kann?
kein Schamgefühl = Indiz für Schwachsinn
Diese Aussage, die eher einer Wirtshausrunde zu entstammen scheint,
erstaunt vor allem, weil sie eben von jenem Mann stammt, der wie fast
kein anderer versucht hat, die Sexualität und ihren Einfluss auf die
menschliche Psyche bis in die verborgendsten Winkel auszuleuchten.
Setzte der "Seelenstriptease", den er seinen Patienten abverlangte, nicht
eine wesentlich größere "Schamlosigkeit" voraus, als dies für eine
körperliche Nacktheit je notwendig wäre?
Leider bin ich bei meinen Recherchen nirgends auf einen Hinweis gestoßen,
in welchem Zusammenhang dieser ominöse Satz gefallen ist und daher
bleibt für eine Interpretation seiner Aussage nur die genaue Durchleuchtung
der Begriffe Scham und Schwachsinn - natürlich streng im Sinne Freuds
und soweit mir das überhaupt möglich ist.
Beginnen wir mit dem leichteren, weil eindeutigeren Begriff, dem
Schwachsinn:
Umgangssprachlich bedeutet er "Unsinn" und ist meist abfällig gemeint.
In der Medizin (inzwischen veraltet) wird damit eine geistige Behinderung,
im Sinne einer Minderung der kognitiven Leistungsfähigkeit, bezeichnet.
In der psychiatrischen Diagnose entspricht Schwachsinn einer schweren
Intelligenzminderung, bei Schwachsinn ist das Risiko an einer psychischen
Störung zu erkranken drei- bis viermal höher, als bei Normalbegabung.
Daraus kann man sicher schon ganz gut ableiten, was Freud unter dem
Begriff "Schwachsinn" verstanden hat.
Ist nun jeder FKK-Bereich oder Swingerclub, ein Hort für Minderintelligente
und potenziell psychisch Gestörte?
Nein - ich denke das war es nicht, was Freud uns sagen wollte.
Dann durchleuchten wir als nächstes den Begriff "Scham", vielleicht
bringt uns das der Lösung einen Schritt näher. Dazu begeben wir uns
zunächst in die Welt der "Phasen der psychosexuellen Entwicklung"
des Menschen.
Die Scham ist für Freud biologisch angelegt und bildet sich in der von
ihm als "sexuelle Latenzperiode" bezeichneten Phase, (beginnend ca. mit
dem 4., 5. Lebensjahr.) in der auch die kognitiven Fähigkeiten des
Menschen ausgebildet werden. Kulturelle Einflüsse, wie zum Beispiel
die Erziehung, wirken dabei steuernd - so auch bei der Ausformung des
Schamgefühls, welches für unser späteres Sexualverhalten
mitbestimmend ist.
Nun könnte man schon eher zu dem Schluss kommen, dass sich Freud
mit seiner Aussage, auf die Entwicklung dieses natürlichen Schamgefühls
in der "Latenzperiode" bezieht, welches aber aufgrund einer schweren
Intelligenzminderung und einer damit verbundenen verminderten
kognitiven Leistungsfähigkeit, nicht ausgebildet wurde.
So gesehen klingt das besagte Zitat schon eher nach einer psychologischen
Analyse eines verhaltensauffälligen Kindes - als dass die Intelligenz von
sexuell freizügigen Menschen, damit pauschal in Frage gestellt werden
sollte.
-x-
Der Begriff "Scham" ist aber so vielschichtig, dass ich mir an dieser Stelle
auf keinen Fall anmaßen würde zu behaupten, ich hätte nun die richtige
Interpretation gefunden.
Das Schamgefühl und die damit verbundenen Tabuschranken beziehen sich
vornehmlich auf die Sexualität - es gibt aber auch die "soziale Scham", die
beim
selbstkritischen Mensch durch Blößen in Wissen, Können, Beruf und
Bildungsstand ausgelöst wird. Die "pädagogische Scham" äußert sich in der
Schwellenangst, eines seine eigenen Bildungsdefizite spürenden Menschen,
die ihn vom Besuch von Bildungsstätten abhält.
Den wahrhaft
selbstkritischen Menschen erkennt man dann wohl daran, dass
er den größten Teil seines Lebens mit rotem Gesicht herum läuft, denn schon
Darwin hält die Neigung aus Scham zu erröten für vererbt, sie ist - wenn
auch nicht genetisch bedingt - durch die Wiederholung während zahlloser
Generationen in die menschliche Gattung eingeschrieben.
In Anbetracht dessen wie dillethantisch und unzulänglich mein Versuch,
Freud zu interpretieren, wohl für jeden der mit dieser Materie vertraut ist
erscheinen muss, sollte ich mich wohl in die Reihen der Rotgesichtigen
einordnen. Warum behalte ich auch meine Gedanken nicht einfach für mich
und muss sie hier, für jedermann lesbar, zum Besten geben?
"Selber Schuld", würde Sartre an dieser Stelle wohl sagen.
Denn für Sartre ist die Scham ohne den Blick des anderen nicht denkbar.
Er meint, dass man sich seiner selbst schämt, so wie man anderen erscheint.
Durch dieses Erscheinen anderer werde man in die Lage versetzt, über sich
selbst ein Urteil zu fällen. Scham wird also auch zum Geständnis. Damit
wird die strikte Trennung zwischen Scham und Schuld unmöglich.
Diese Aussage fand ich aus dem Grund bemerkenswert, weil sie zum
Ausdruck bringt, dass Scham keine fixe Größe ist. Erst durch das
Erscheinen anderer wird das Schamgefühl ausgelöst und verifizierbar.
Mitentscheidend,
was in uns ein Gefühl der Scham auslöst, ist also
das Szenario in dem wir uns befinden, geprägt von den anwesenden
Menschen und der jeweiligen Umstände.
Auch die angesprochene Verknüpfung zwischen Scham- und Schuldgefühl,
scheint auf der Hand zu liegen.
Im evolutionären Prozess betrachtet, basiert das Schuldgefühl zunächst auf
der sozialen Angst, also einer äußeren Autorität. Erst auf der zweiten
evolutionären Stufe wird diese Angst um das Gewissen ergänzt, welches die
äußere Autorität als "Über-Ich" verinnerlicht hat. Die Scham (Gewissen) ist
somit ein Gefühlsausdruck, der das Schuldbewusstsein begleitet und aus ihm
entsteht.
-x-
Auch der Begriff "Peinlichkeit", der in meinem vorigen Beitrag ebenfalls
genannt wird, scheint mit dem Schamgefühl eng verbunden zu sein.
Denn das Empfinden von Peinlichkeit und Scham kann durchaus als ein
Gefühl auftreten. So kann eine Situation für alle Anwesenden peinlich sein,
wo sich hingegen nur ein Anwesender schämt. Peinlichkeit bezieht sich
auf das Äußere und Scham auf die innere Perspektive. Es kann aber auch
ein Peinlichkeitsgefühl in der Gruppe auftreten, ohne jedes Schamgefühl.
Sich für jemanden zu schämen, nimmt eine Sonderstellung ein. Hierbei ist
das Gefühl des Einsseins von besonderer Bedeutung. So kann sich ein Partner
für seinen Lebensgefährten oder ein Kind für seine Eltern schämen, weil in
derart intimen Beziehungen das Gefühl einer Verantwortlichkeit für den
Anderen hinzukommt.
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"Die Abwesenheit des Schamgefühls ist ein sicheres Zeichen von Schwachsinn."
Nach alldem bin ich fast versucht zu sagen, "Es ist schwachsinnig
anzunehmen, es gäbe jemanden, der frei von jeglichem Schamgefühl ist".
Denn dieses Gefühl scheint mir viel zu sehr in unserem Innersten verwurzelt
zu sein, als dass wir es ignorieren, oder gänzlich zur Seite schieben könnten
und "Scham" nur in Zusammenhang mit körperlicher Nacktheit und
sexuellen Trieben zu sehen, wäre eine geradezu "schamlos" vereinfachte
Sichtweise unserer Gefühlswelt.
Sollte es wirklich den Fall geben, dass ein Mensch kein, wie auch immer
geartetes, Schamgefühl entwickelt, beziehungsweise ihm dieses im
späteren Verlauf seines Lebens abhanden gekommen ist, dann liegt die
Vermutung nahe, dass bei ihm - aus welchem Grund auch immer - tatsächlich
eine massive Störung seiner Gefühlswelt vorliegt.
In jedem Fall sehe ich Freuds Zitat
nicht dazu geeignet, Aussagen zu
bestätigen, noch Aussagen darauf aufzubauen, welche sexuelle
Freizügigkeiten als eine Folge von verminderter Intelligenz, oder als ein
Indiz für fortschreitende Dekadenz, darstellen wollen. Weder für den
Einzelnen noch für die Gesellschaft.
lg raider