Salaam – Fotokopie
.Neben der Ladentür, die weit offensteht, hängt ein Messingschild mit dem Schriftzug Hessabi Export Import GmbH. Ob der alte Mann, der einem Kunden gerade ein Paket Plakate übergibt, Hessabi heißt? Im Vorbeigehen rieche ich seinen schlechten Atem. Hat er ein Magengeschwür? Oder ist es nur der Geruch des Alters, trockengefallener Schleimhäute nach dem Versiegen des Speichelflusses? In der Mitte des Ladens steht ein Mann auf einer Leiter, um die Leuchtstoffröhren der Deckenbeleuchtung auszutauschen. Herr Hessabi begrüßt mich mit einem Nicken. "Guten Tag", sage ich und reiche ihm einen Stapel Papier: „Ich brauche Farbkopien: doppelseitig zu doppelseitig." Er schaut mich fragend an, seine buschigen Augenbrauen bewegen sich unwirsch auf und ab, zögerlich streicht seine Hand über das Papier. In seinem Blick liegt Verzweiflung. Mir tut es leid, dass ich derart Kompliziertes von ihm verlange, aber dies ist der einzige Copy-Shop weit und breit.
Währenddessen betritt der nächste Kunde den engen Laden. In der Hand hält er eine großformatige Tageszeitung. Ohne Gruß poltert er in unser Schweigen und verlangt die Kopie des Leitartikels, auf den er mit dicken Fingern deutet und mit ihnen beinahe das dünne Zeitungspapier durchbohrt. Herr Hessabi nickt wortlos in Richtung der Kopierer, die links von uns stehen. Aber der Kunde mit den Fleischerhänden will sich nicht selbst helfen. Herr Hessabi ignoriert ihn, sieht mich an, aber mit einem Blick, als sei ihm mein Begehr entfallen. Ich nehme das oberste Blatt des Papierstapels vorsichtig aus seiner Hand und zeige ihm, dass es auf beiden Seiten bedruckt ist: "Ich brauche genau so eine Kopie von allen Blättern."
Der Zeitungsmann murrt, raschelt und scharrt mit den Füßen, weil der alte Mann einige Zeit benötigen wird, um meinen Auftrag auszuführen. Herr Hessabi sucht fragend meine Augen, ich nicke, er legt meinen Papierstapel vorsichtig auf den Farbkopierer, um zuerst den anderen Kunden abzufertigen. Ich setze mich auf den einzigen Stuhl, der zwischen zwei Regalen an der Wand steht. Ich will nicht im Weg sein, wenn noch mehr Kunden kommen oder der Mann mit den Leuchtstoffröhren irgendwann von der Leiter runtersteigt.
Die Kopie für den Zeitungsartikel kostet 50 Cent. Hessabi steckt die Münze in die rechte Hosentasche. Als er zum Farbkopierer geht, stößt er mit dem Fuß gegen das Gitter der Deckenlampe, das der Elektriker hochkant an das Gerät gelehnt hat. Wie Freddie Frinton ignoriert er seinen Stolperer und den Gegenstand, der ihn verursachte. "Ich kann Ihnen helfen", sage ich, als er beginnt, auf das Touchpad des Kopierers zu drücken, "ich kenne mich gut damit aus". Er schüttelt energisch den Kopf, knurrt kurz und macht eine abwehrende Handbewegung in meine Richtung, als ich mich aus dem Stuhl erhebe. Er ist so viele Jahre älter als ich und die Technik, die er bedient. Ich sinke zurück auf meinen Platz.
In der Zwischenzeit hat ein großer jüngerer Mann das Geschäft betreten. Er spricht kein einziges Wort, geht an den Computer an der gegenüberliegenden Wand und steckt einen USB-Stick in die Schnittstelle. Dann tippt er auf der Tastatur, bis aus einem der Kopierer ein DIN A3-Blatt kommt, das er zusammenrollt. Ohne ein Wort will er dem alten Mann Geld über das Gerät reichen, aber Hessabi schüttelt den Kopf. Nicht eine Sekunde hebt er den Blick vom Touchpad. Ich nehme an, das ist sein Sohn oder andere Verwandtschaft. Die Hand mit dem Geld bewegt sich so unwirsch auf und ab wie vorhin die Augenbrauen Hessabis, der endlich die 50-Cent-Münze nimmt und in die rechte Hosentasche steckt. Stumm verlässt der große Mann den Laden. Für einen kurzen Moment sehe ich sein Gesicht – niemals ist das Hessabis Sohn oder Neffe.
Nun steigt der Elektriker von der Leiter, ich ziehe die Füße unter meinen Stuhl. Der vordere Decken-Lichtschacht ist ausgeräumt. Er versetzt die Leiter um einen Meter direkt vor den Verkaufstresen und steigt zum zweiten Lichtschacht hinauf. Das Gitter des ersten lehnt noch immer am Kopierer neben dem Fuß des alten Mannes. Ich überlege, es an einem anderen Ort abzustellen. Jetzt drückt Herr Hessabi die Tasten seines Mobiltelefons, während sein Blick weiter auf das Touchpad des Kopierers gerichtet bleibt. Er spricht Arabisch, ich nicht. Als er das Gespräch beendet, nickt er plötzlich in meine Richtung und lächelt. Ich auch.
Da betreten ein Mann und eine Frau den Laden. Sie sagt: "Salaam", und der alte Mann hebt beide Arme und grüßt zurück. Kurz geht er zu ihnen an die Tür und bleibt zum zweiten Mal am Lampengitter hängen. Ich sehe hinunter zu seinen Füßen. Hessabi trägt ausgelatschte Hausschuhe und steht mit nackten Fersen auf dem dunklen Teppichboden, mit dem das Geschäft ausgelegt ist. In den engen Gängen zwischen Kopierer und Regalen liegen außerdem kleine Perserteppiche. In der Glasvitrine, die rechts von mir steht, sehe ich mehrere Leicas und eine Hasselblad. Kein Preisschild. An der Wand hinter dem Verkaufstresen sehe ich Hunderte kleine Filmschachteln der Firma Kodak. Von dort wandert mein Blick zurück zum Mann auf der Leiter, der das zweite Gitter entfernt, und ich frage mich, wo er es anlehnen wird. Es ist dunkel geworden, weil er auch die funktionierenden Leuchtstoffröhren entfernt hat. Ob das bisschen Tageslicht von draußen und das Vitrinenlicht ausreichen wird für die Arbeiten der beiden Männer? Doch mein Druckjob im Farbkopierer läuft. Ich möchte aufstehen und hinübergreifen in den Ausgabeschacht, um mich zu vergewissern, dass darin wirklich doppelseitige Kopien liegen. Nur anderthalb Meter trennen mich vom Gerät. Und der Gedanke an Hessabis Würde.
Während sich der alte Mann mit dem Paar auf Arabisch unterhält, betritt eine ältere deutsche Dame das Geschäft. Unbeachtet von den anderen steuert sie das Regal mit den Bilder- und Wechselrahmen an. Sie nimmt mehrere in Augenschein, umrundet dabei langsam die Kopierer und entfernt sich aus dem Laden beinahe ungesehen mit einem kleinen Rahmen in ihrer Tasche.
Hessabi geht hinüber zum Glastresen, auf den der Elektriker das zweite Gitter abgelegt hat. Aus einer Schublade zieht er eine Plastikverpackung, in der sich ein Batterieladegerät befindet. Auf dem Rückweg legt er die zweite Hälfte meiner Farbausdrucke ein und entnimmt die erste Hälfte der Kopien, die er sorgfältig auf dem Gerät daneben stapelt. Das Paar legt probeweise den Akku aus der mitgebrachten Digitalkamera ein. Dann zieht der Mann einen 50-Euro-Schein aus der Hose und drückt ihn Hessabi in die Hand. Auf dem Weg zur Kasse stolpert der alte Mann zum dritten Mal über das Gitter und bemerkt, dass der Kopierer zwar die Blätter einzieht, aber keine Kopien mehr ausspuckt. Papier nachlegen, denke ich und sehe den offenen Karton unterm Tresen. Würde nicht die Leiter im Weg stehen, längst hätte ich ein Päckchen geholt und aufgemacht, um es Hessabi anzureichen.
Er aber will dem Pärchen zuerst das Wechselgeld geben und macht einen Bogen um das angelehnte Gitter. Ich unterdrücke mein Lachen. Bevor Hessabi Papier holen und nachlegen kann, wird er vom Elektriker angesprochen, der auch Araber ist. Das Wort Inschallah kann ich deutlich heraushören und denke, er hat zu wenig Röhren dabei und muss die fehlenden erst nachbestellen. Der alte Mann bleibt unerschüttert und zieht ein Paket Kopierpapier unterm Tresen hervor. Routiniert füllt er es in die leere Kassette und stolpert auf dem Rückweg zum vierten Mal über das Gitter.
Nach einer wunderbaren Ewigkeit halte ich zwei Stapel Papier in Händen. Als Hessabi die Quittung über € 54 schreibt, linse ich schnell in die Kopien. „Vielen Dank“, sage ich glücklich und strahle den alten Mann an, der beide Arme in die Höhe hebt, lächelt und mich auf Arabisch verabschiedet. Und auch das Pärchen grüßt mich, als ich an ihnen vorbei wieder auf die Straße hinaustrete.
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© Ozeana (2009)