Die Suche
Jeden Morgen hat er das gleiche Ritual. Aufstehen, Morgentoilette mit allem, was dazugehört. Sich an der heißen Tasse mit dem Tee die Finger verbrennen, kurz über den Tassenrand pusten und dann mehr zu schlürfen, als wirklich einen Schluck zu nehmen, um festzustellen, dass es noch seine Zeit braucht, bis der Tee eine trinkbare Temperatur angenommen hat. Während er also wartet, nutzt er die Zeit, um sich stehend mit seinem Mobiltelefon zu befassen. Seit einiger Zeit ist er auf dieser Dating-Seite und hofft, jeden Morgen von einer Frau angeschrieben worden zu sein. Dass dies nicht so ist, gehört mittlerweile auch zu seinem Ritual. Ohne die Enttäuschung würde er gar nicht den Ansporn haben, sich dort weiter umzusehen. Es ist seine Umkehrung der Wirklichkeiten, die ihn so anders machen. Sein Lächeln ist nicht immer der Ausdruck von Freude, es ist der Ausdruck eines positiven Lebensgefühls. Wohl auch deshalb mögen ihn seine Kolleginnen durchweg, von denen er schon einmal hört, er sei charmant. Von charmant fallen hingegen nicht die Hüllen und genau das ist es doch, nach was er sich im Innern so sehr sehnt.Der Tee ist noch immer nicht abgekühlt. Er muss dennoch zur Arbeit. Wie jeden Morgen. Die Tasse kippt er deshalb in einen kleinen Thermobecher aus Edelstahl. Wie jeden Morgen. Er ist sich bewusst, dass das Probieren, das kurze Pusten, das einschlürfen, weniger Milliliter im Grund überflüssig sind. Er tut es aber dennoch. Ihm würde sonst etwas fehlen.
Vor allem hätte er dann einen zeitlichen Freiraum, den er irgendwie anders überbrücken müsste. Vielleicht noch mit Nachrichten. Nein. Die Nachrichten sollen ihm nicht schon am Morgen das positive Grundgefühl rauben, das er sich in der Nacht herbeigeschlafen und herbeigeträumt hat. Mit dem ersten Schritt vor die Tür hört er die Singvögel auf den Dächern, im großen Kirschbaum, der im Hof steht und fühlt sich in seiner Energie bestärkt. Draußen ist es bereits hell. Die Sonne bringt den Frühling und das Leben. Die Kleinen sich öffnen Blattknospen lassen seine Umwelt bereits fein grünlich schimmern. Die noch tief stehende Sonne schickt ihre Strahlen durch Zweige und Halme und lässt lange Schatten entstehen. Auch dafür nimmt er sich jeden Morgen einen Moment Zeit. Die Thermobecher in der linken Hand, die Laptoptasche über der Schulter bückt er sich jeden Morgen und streicht mit der rechten Hand über das Gras. Fühlt, ob es feucht ist oder nicht. Tau mag er besonders oder wenn es zuvor in der Nacht geregnet hat. Dann ist die Luft so frisch, so sauber, dann geht sie so tief in die Lungen. Für ihn eine lebensbejahende Grundlage, die er mit dem Starten seines Fahrzeuges nicht ablegt. Ihm ist bewusst, dass sein Verbrenner nicht sonderlich förderlich ist, um all das, was er in der Natur zu finden in der Lage ist, zu erhalten. Auf das Geräusch beim Treten des Pedals, auf die Beschleunigung und das Schalten möchte er jedoch nicht verzichten. Es sind seine 40 Minuten Freiheit, die er sich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit nimmt. Würde er gefragt: „Rennauto oder Oldtimer?“, er würde zum Rennauto tendieren. Wenn ihn alte Autos auch faszinieren, allein die Geschwindigkeit würden ihm fehlen. Endschleunigen, dass kann er anders. Das Gefühl, über den Asphalt zu fliegen, die kurzen Adrenalinstöße und das ebenso einhergehende heftige Schlagen des Herzens beim Übertreten von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder waghalsigen Überholmanöver, lassen ihn sein Leben offener Spüren als sonst im Alltag. Die Grenzen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits in Sekunden verschmelzen. Er ist dann wie Schrödingers Katze. Lebendig und doch gleichzeitig und potentiell tot.
Auch seine Arbeit ist von Ritualen bestimmt. Ob es die Parkkarte für die Tiefgarage ist. Das Abstellen des mittlerweile leeren Thermobechers. Das Drücken des Knopfes im Fahrstuhl. Das Grüßen der ersten Kollegen und das heimliche Bewundern dieser Kollegin, die für ihn so viel positives hat, dass er jedes Mal auf seiner Fahrt in die 17. Etage in Fantasien und mögliche parallele Realitäten abdriftet. Erst die Glocke beim Öffnen der Türen holt ihn zurück und dann lächelt er. Es ist jenes Lächeln, dass die Kolleginnen so sympathisch und die Kollegen so nervig finden. Für ihn selbst ist es nur ein Gefühl. Die innere Freude darüber, sich selbst beim Tagträumen am Morgen erwischt zu haben. An seinem Arbeitsplatz angekommen greift er erneut zum Mobiltelefon. Wieder öffnet er diese Dating-Seite. Es könnte ja. Nein. Die Routine macht selbst hier nicht halt. Während er seinen Rechner auspackt und aufklappt, hört er bereits die ersten Stimmen auf dem Flur. Die Kolleginnen und Kollegen unterhalten sich über einen Film, den sie gestern im Fernsehen geschaut haben. Er bleibt in seinem Büro. Ohnehin könnte er nichts zur Unterhaltung beitragen. Einen Fernseher besitzt er nicht. Wozu auch. Bei all den Büchern und den Wäldern, die seine Heimat bilden. „Wald statt Wiese“, das wäre seine Antwort, wenn er danach gefragt würde, wo er sich lieber aufhielte. Der Wald ist ein vielfältigerer Lebensraum, da ist er sich sicher. Wenn er durch die Wälder streift, meist ziellos, einfach nur der Bewegung und des Genießens wegen, dann ist da für ihn so viel mehr zu entdecken. Da hört er, wie der Wind in den Bäumen eine Melodie anstimmt. Wie die Fasern der Bäume beim Hin und Her diese um ein weiteres Instrument erweitern. Da sieht er auf dem Boden die Spuren des Wilds und so manch kleines Tier, für das der Wald eine Welt aus riesigen Pflanzen sein muss. Ab und an findet er auch Federn, die er sich dann beinahe infantil hinter die Ohren oder ans Revers klemmt. Es sind so schöne Feder. Weiße, schwarze, glänzende. Und gibt ihm die tief stehende Sonne das Signal zur Umkehr, zurück in sein Zuhause, dann steckt er diese Federn in die alten Akazienpfähle unweit seines Hauses, die dort der Landwirt einschlug, um an ihnen einen Zaun zu installieren. Die Weiden können dem Wald nicht streitig werden. Die Tiere auf ihr hingegen schon. Wie die Pferde und Kühe sich verstehen, wie die einen toben und die anderen das gemütlich geschehen lassen, das fasziniert ihn immer wieder. ´Währen doch nur die Menschen ein bisschen so wie Pferde und Kühe´, denkt er sich oft, schüttelt diesen Gedanken aber meist schnell wieder ab, weil er nichts Bejahendes hat.
Meist merkt er erst, wenn er die Schuhe ausgezogen und sich einen Tee aufgesetzt hat, dass seine Wanderung im Wald ganz ohne Telefon stattfand. Wie oft hat er es schon zu Hause liegen gelassen, ohne jegliches Interesse an dem, was die Welt so mitzuteilen hat. Erst wenn er wieder daheim ist, zu einer anderen Ruhe kommt, dann quält in dies digitale Neugier. Vielleicht hat ja. Nein.
Männer müssen den ersten Schritt gehen, davon ist er mittlerweile überzeugt. Diese Überzeugung hilft ihm aber nicht, diesen Schritt auch zu tun. Worauf soll er sich dabei auch stützen? Auf einige Bilder? Auf einen kurzen, kaum aussagekräftigen Text? Auf eine Profilbeschreibung von Größe, Haar- und Augenfarbe? Für ihn ist all das nur oberflächliche Einschränkung. Er hat seinen Typus. Gern Blond oder brünett. Gern blaue oder grüne Augen. Gern Normal und nicht ausgeflippt oder angepasst. Ja, auf solche Frauen achtet er. Wie auf seine Kollegin. Die für ihn über alle Maßen perfekt ist. Nur eben auch schon verheiratet und überhaupt keine Signale aussehend, die er als Anlass verstehen könnte, mit ihr mehr zu bereden als die gesellschaftlich anerkannten Höflichkeitsformen der Kommunikation. Nein, diese Frau ist das Poster in seinem Kopf. Aufgehängt, um sie zu bewundern, nicht, um mit ihr die Bühne zu teilen.
Es ist spät, der Inhalt des Buches, das er gerade liest, hat heute nur wenig Interesse geweckt. Gerade einmal 40 Seiten hat er gelesen, bis ihm die Augen schwer wurden. Bevor er das Licht ausschaltet, schaut er noch einmal auf diese Dating-Seite. Es könnte ja. Nein.
Wie gern würde er dieses Klopfen des Herzens vernehmen, das den ganzen Körper zucken lässt. Wie gern würde er dieses Kribbeln im Bauch spüren, das den Kopf vernebelt? Wie gern würde er mit jemandem einfach nur schreiben. Sie kennenlernen. Von ihrem Leben erfahren und von seinem erzählen. Wie gern nur würde er Gemeinsamkeiten entdecken und sich darüber freuen. Ja, und wie gern würde er diese Frau berühren im Geist, im Herzen und an der Haut.
Das Licht ist aus. Der nächste Morgen da und mit ihm die Rituale. Vielleicht ja heute. Nein.
Vielleicht sollte er doch. Doch dann wäre er einer von vielen. Dann wäre er der Oberflächlichkeit preisgegeben. Nein, er möchte interessieren. Eine Frau soll ihn nicht erst wahrnehmen, wenn sie auf ihn aufmerksam gemacht wird. Er sucht die, die ein Interesse an ihm hat. Das dieses Interesse durch seine Bilder, seinen Text und seine Beschreibung ausgelöst wird, weiß er. Diese Oberflächlichkeit nimmt er jedoch in Kauf. Nicht jeder ist wie er. Die, die ihn anschreibt, würde es aus einem Ideal heraus, tun. Da ist er sich sicher. Und deshalb würde er auch antworten. Sicher würde er das. Schon aus Neugierde. Der Unterhaltung wegen und wegen der Möglichkeit, einen Menschen kennenzulernen, den er sonst nie hätte kennenlernen dürfen. Ob daraus nun etwas erwächst oder nicht. Allein die Nachricht würde ihn bereits erfreuen. Würde ihn hüpfen lassen. Eine Nachricht, von der Einen, das war sein Wunsch bei der Anmeldung und dass ist sein Wunsch bei jedem Blick auf die Dating-Seite. Immerhin würden sich Räume öffnen, die sonst für ihn verschlossen waren, wenn er eine Nachricht bekäme. Ein anderer Ausdruck, ein anderes Lebensgefühl, ein anderer Alltag, eine andere Person, ja und Erotik könnten hinter jeder Tür dieser Räume auf ihn warten. Erotik, wie sehr mag er Erotik. Verpackt in Doppeldeutigkeiten, in Humor, bis sie zu einem ernsthaften Verlangen dem Gegenüber erwächst.
Während der Rechner hochfährt, schaut er auf sein Telefon. Vielleicht hat ja. Nein.
Die Enttäuschung ist erneut Ansporn. Neue Mitglieder, neue Chancen. Den Alltag vergessend schaut er über die Profile und findet dieses eine, dass ihn nicht mehr loslässt. Die kurzen Worte studiert er noch lange nachdem er das Telefon beiseite gepackt hat.
„Museum oder Strand? – Museum
Buch oder Fernseher? – Buch
Rennauto oder Oldtimer? – Beides
Pferd oder Rad?“ – Pferd“
Seine Neugierde ist geweckt. Soll er?