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Die Suche

********iler Mann
767 Beiträge
Themenersteller 
Die Suche
Jeden Morgen hat er das gleiche Ritual. Aufstehen, Morgentoilette mit allem, was dazugehört. Sich an der heißen Tasse mit dem Tee die Finger verbrennen, kurz über den Tassenrand pusten und dann mehr zu schlürfen, als wirklich einen Schluck zu nehmen, um festzustellen, dass es noch seine Zeit braucht, bis der Tee eine trinkbare Temperatur angenommen hat. Während er also wartet, nutzt er die Zeit, um sich stehend mit seinem Mobiltelefon zu befassen. Seit einiger Zeit ist er auf dieser Dating-Seite und hofft, jeden Morgen von einer Frau angeschrieben worden zu sein. Dass dies nicht so ist, gehört mittlerweile auch zu seinem Ritual. Ohne die Enttäuschung würde er gar nicht den Ansporn haben, sich dort weiter umzusehen. Es ist seine Umkehrung der Wirklichkeiten, die ihn so anders machen. Sein Lächeln ist nicht immer der Ausdruck von Freude, es ist der Ausdruck eines positiven Lebensgefühls. Wohl auch deshalb mögen ihn seine Kolleginnen durchweg, von denen er schon einmal hört, er sei charmant. Von charmant fallen hingegen nicht die Hüllen und genau das ist es doch, nach was er sich im Innern so sehr sehnt.
Der Tee ist noch immer nicht abgekühlt. Er muss dennoch zur Arbeit. Wie jeden Morgen. Die Tasse kippt er deshalb in einen kleinen Thermobecher aus Edelstahl. Wie jeden Morgen. Er ist sich bewusst, dass das Probieren, das kurze Pusten, das einschlürfen, weniger Milliliter im Grund überflüssig sind. Er tut es aber dennoch. Ihm würde sonst etwas fehlen.
Vor allem hätte er dann einen zeitlichen Freiraum, den er irgendwie anders überbrücken müsste. Vielleicht noch mit Nachrichten. Nein. Die Nachrichten sollen ihm nicht schon am Morgen das positive Grundgefühl rauben, das er sich in der Nacht herbeigeschlafen und herbeigeträumt hat. Mit dem ersten Schritt vor die Tür hört er die Singvögel auf den Dächern, im großen Kirschbaum, der im Hof steht und fühlt sich in seiner Energie bestärkt. Draußen ist es bereits hell. Die Sonne bringt den Frühling und das Leben. Die Kleinen sich öffnen Blattknospen lassen seine Umwelt bereits fein grünlich schimmern. Die noch tief stehende Sonne schickt ihre Strahlen durch Zweige und Halme und lässt lange Schatten entstehen. Auch dafür nimmt er sich jeden Morgen einen Moment Zeit. Die Thermobecher in der linken Hand, die Laptoptasche über der Schulter bückt er sich jeden Morgen und streicht mit der rechten Hand über das Gras. Fühlt, ob es feucht ist oder nicht. Tau mag er besonders oder wenn es zuvor in der Nacht geregnet hat. Dann ist die Luft so frisch, so sauber, dann geht sie so tief in die Lungen. Für ihn eine lebensbejahende Grundlage, die er mit dem Starten seines Fahrzeuges nicht ablegt. Ihm ist bewusst, dass sein Verbrenner nicht sonderlich förderlich ist, um all das, was er in der Natur zu finden in der Lage ist, zu erhalten. Auf das Geräusch beim Treten des Pedals, auf die Beschleunigung und das Schalten möchte er jedoch nicht verzichten. Es sind seine 40 Minuten Freiheit, die er sich jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit nimmt. Würde er gefragt: „Rennauto oder Oldtimer?“, er würde zum Rennauto tendieren. Wenn ihn alte Autos auch faszinieren, allein die Geschwindigkeit würden ihm fehlen. Endschleunigen, dass kann er anders. Das Gefühl, über den Asphalt zu fliegen, die kurzen Adrenalinstöße und das ebenso einhergehende heftige Schlagen des Herzens beim Übertreten von Geschwindigkeitsbegrenzungen oder waghalsigen Überholmanöver, lassen ihn sein Leben offener Spüren als sonst im Alltag. Die Grenzen zwischen dem Diesseits und dem Jenseits in Sekunden verschmelzen. Er ist dann wie Schrödingers Katze. Lebendig und doch gleichzeitig und potentiell tot.
Auch seine Arbeit ist von Ritualen bestimmt. Ob es die Parkkarte für die Tiefgarage ist. Das Abstellen des mittlerweile leeren Thermobechers. Das Drücken des Knopfes im Fahrstuhl. Das Grüßen der ersten Kollegen und das heimliche Bewundern dieser Kollegin, die für ihn so viel positives hat, dass er jedes Mal auf seiner Fahrt in die 17. Etage in Fantasien und mögliche parallele Realitäten abdriftet. Erst die Glocke beim Öffnen der Türen holt ihn zurück und dann lächelt er. Es ist jenes Lächeln, dass die Kolleginnen so sympathisch und die Kollegen so nervig finden. Für ihn selbst ist es nur ein Gefühl. Die innere Freude darüber, sich selbst beim Tagträumen am Morgen erwischt zu haben. An seinem Arbeitsplatz angekommen greift er erneut zum Mobiltelefon. Wieder öffnet er diese Dating-Seite. Es könnte ja. Nein. Die Routine macht selbst hier nicht halt. Während er seinen Rechner auspackt und aufklappt, hört er bereits die ersten Stimmen auf dem Flur. Die Kolleginnen und Kollegen unterhalten sich über einen Film, den sie gestern im Fernsehen geschaut haben. Er bleibt in seinem Büro. Ohnehin könnte er nichts zur Unterhaltung beitragen. Einen Fernseher besitzt er nicht. Wozu auch. Bei all den Büchern und den Wäldern, die seine Heimat bilden. „Wald statt Wiese“, das wäre seine Antwort, wenn er danach gefragt würde, wo er sich lieber aufhielte. Der Wald ist ein vielfältigerer Lebensraum, da ist er sich sicher. Wenn er durch die Wälder streift, meist ziellos, einfach nur der Bewegung und des Genießens wegen, dann ist da für ihn so viel mehr zu entdecken. Da hört er, wie der Wind in den Bäumen eine Melodie anstimmt. Wie die Fasern der Bäume beim Hin und Her diese um ein weiteres Instrument erweitern. Da sieht er auf dem Boden die Spuren des Wilds und so manch kleines Tier, für das der Wald eine Welt aus riesigen Pflanzen sein muss. Ab und an findet er auch Federn, die er sich dann beinahe infantil hinter die Ohren oder ans Revers klemmt. Es sind so schöne Feder. Weiße, schwarze, glänzende. Und gibt ihm die tief stehende Sonne das Signal zur Umkehr, zurück in sein Zuhause, dann steckt er diese Federn in die alten Akazienpfähle unweit seines Hauses, die dort der Landwirt einschlug, um an ihnen einen Zaun zu installieren. Die Weiden können dem Wald nicht streitig werden. Die Tiere auf ihr hingegen schon. Wie die Pferde und Kühe sich verstehen, wie die einen toben und die anderen das gemütlich geschehen lassen, das fasziniert ihn immer wieder. ´Währen doch nur die Menschen ein bisschen so wie Pferde und Kühe´, denkt er sich oft, schüttelt diesen Gedanken aber meist schnell wieder ab, weil er nichts Bejahendes hat.
Meist merkt er erst, wenn er die Schuhe ausgezogen und sich einen Tee aufgesetzt hat, dass seine Wanderung im Wald ganz ohne Telefon stattfand. Wie oft hat er es schon zu Hause liegen gelassen, ohne jegliches Interesse an dem, was die Welt so mitzuteilen hat. Erst wenn er wieder daheim ist, zu einer anderen Ruhe kommt, dann quält in dies digitale Neugier. Vielleicht hat ja. Nein.
Männer müssen den ersten Schritt gehen, davon ist er mittlerweile überzeugt. Diese Überzeugung hilft ihm aber nicht, diesen Schritt auch zu tun. Worauf soll er sich dabei auch stützen? Auf einige Bilder? Auf einen kurzen, kaum aussagekräftigen Text? Auf eine Profilbeschreibung von Größe, Haar- und Augenfarbe? Für ihn ist all das nur oberflächliche Einschränkung. Er hat seinen Typus. Gern Blond oder brünett. Gern blaue oder grüne Augen. Gern Normal und nicht ausgeflippt oder angepasst. Ja, auf solche Frauen achtet er. Wie auf seine Kollegin. Die für ihn über alle Maßen perfekt ist. Nur eben auch schon verheiratet und überhaupt keine Signale aussehend, die er als Anlass verstehen könnte, mit ihr mehr zu bereden als die gesellschaftlich anerkannten Höflichkeitsformen der Kommunikation. Nein, diese Frau ist das Poster in seinem Kopf. Aufgehängt, um sie zu bewundern, nicht, um mit ihr die Bühne zu teilen.
Es ist spät, der Inhalt des Buches, das er gerade liest, hat heute nur wenig Interesse geweckt. Gerade einmal 40 Seiten hat er gelesen, bis ihm die Augen schwer wurden. Bevor er das Licht ausschaltet, schaut er noch einmal auf diese Dating-Seite. Es könnte ja. Nein.
Wie gern würde er dieses Klopfen des Herzens vernehmen, das den ganzen Körper zucken lässt. Wie gern würde er dieses Kribbeln im Bauch spüren, das den Kopf vernebelt? Wie gern würde er mit jemandem einfach nur schreiben. Sie kennenlernen. Von ihrem Leben erfahren und von seinem erzählen. Wie gern nur würde er Gemeinsamkeiten entdecken und sich darüber freuen. Ja, und wie gern würde er diese Frau berühren im Geist, im Herzen und an der Haut.
Das Licht ist aus. Der nächste Morgen da und mit ihm die Rituale. Vielleicht ja heute. Nein.
Vielleicht sollte er doch. Doch dann wäre er einer von vielen. Dann wäre er der Oberflächlichkeit preisgegeben. Nein, er möchte interessieren. Eine Frau soll ihn nicht erst wahrnehmen, wenn sie auf ihn aufmerksam gemacht wird. Er sucht die, die ein Interesse an ihm hat. Das dieses Interesse durch seine Bilder, seinen Text und seine Beschreibung ausgelöst wird, weiß er. Diese Oberflächlichkeit nimmt er jedoch in Kauf. Nicht jeder ist wie er. Die, die ihn anschreibt, würde es aus einem Ideal heraus, tun. Da ist er sich sicher. Und deshalb würde er auch antworten. Sicher würde er das. Schon aus Neugierde. Der Unterhaltung wegen und wegen der Möglichkeit, einen Menschen kennenzulernen, den er sonst nie hätte kennenlernen dürfen. Ob daraus nun etwas erwächst oder nicht. Allein die Nachricht würde ihn bereits erfreuen. Würde ihn hüpfen lassen. Eine Nachricht, von der Einen, das war sein Wunsch bei der Anmeldung und dass ist sein Wunsch bei jedem Blick auf die Dating-Seite. Immerhin würden sich Räume öffnen, die sonst für ihn verschlossen waren, wenn er eine Nachricht bekäme. Ein anderer Ausdruck, ein anderes Lebensgefühl, ein anderer Alltag, eine andere Person, ja und Erotik könnten hinter jeder Tür dieser Räume auf ihn warten. Erotik, wie sehr mag er Erotik. Verpackt in Doppeldeutigkeiten, in Humor, bis sie zu einem ernsthaften Verlangen dem Gegenüber erwächst.
Während der Rechner hochfährt, schaut er auf sein Telefon. Vielleicht hat ja. Nein.
Die Enttäuschung ist erneut Ansporn. Neue Mitglieder, neue Chancen. Den Alltag vergessend schaut er über die Profile und findet dieses eine, dass ihn nicht mehr loslässt. Die kurzen Worte studiert er noch lange nachdem er das Telefon beiseite gepackt hat.
„Museum oder Strand? – Museum
Buch oder Fernseher? – Buch
Rennauto oder Oldtimer? – Beides
Pferd oder Rad?“ – Pferd“

Seine Neugierde ist geweckt. Soll er?
********iler Mann
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Nichts ist, seit er das Profil dieser Frau gesehen hat, wie es war. Sein Alltag verschwimmt in den Gedanken und Fantasien darüber, wie es wohl sein würde, wenn sie ihm wirklich antwortet. Ein Lächeln überkommt ihn dann, das meist danach gleich wieder ins Nachdenkliche versinkt. `Und wenn sie nun nicht antwortet? Wenn sie es doch sein könnte und nicht ist?` Dieser Gedanken lässt ihn nicht mehr los. Er ist Teil eines Fadens, den er mit alternativen Realitäten verknüpft. Ja, was wäre, wenn sie nicht antwortet? Könnte er dann überhaupt und je wieder eine Frau anschreiben. Wäre es eine so große Enttäuschung, nur einen Schritt vom Durchqueren des Tores entfernt, auf dessen anderer Seite all das liegt, was er sich erträumt, dass er weiter nur immer schauen würde, ob nicht vielleicht? Und dann dieses Nein!
Er wage es. Allein in seinem Büro steht er am Fenster, schaut über die Landschaft, die Häuser, die winzig wirkenden Fahrzeuge und Menschen und hält sein Telefon in der Hand. „Hallo, mein Name ist“, beginnt er zu tippen und hält dann lang den Daumen auf jener Taste, die all die Buchstaben wieder löschte. „Hi, ich habe dein Profil gesehen und war gleich hin und weg.“ Auch diesmal verschwinden die Buchstaben einer nach dem anderen und übrig bleibt ein leeres Feld. Warum nur ist es für ihn so schwer, sich gegenüber Frauen auszudrücken. Er, der Belesene, dem ein hohes Allgemeinwissen zur Verfügung steht. Was nur hemmt ihn? Es ist Mittag und die Arbeit kaum geschafft. Sein Entschluss, heute früher zu gehen, um entlang des alten stillgelegten Kanals zu einem inneren Einklang zu kommen, ist getroffen. Würde jemand fragen, warum er denn vor dem Feierabend seinen Arbeitsplatz verlässt, so würde er ein Unwohlsein als Grund angeben.
Das niemand fragt, nur eine Kollegin einen schönen Feierabend wünscht, irritiert ihn auf eine neue Art. `Warum interessiert es niemanden, wann ich gehe?´ fragt er sich noch im Aufzug. Die Frage selbst verschwindet beim Einschalten des Radios. Beim Herausfahren aus dem Parkhaus ist er in Gedanken schon längst am Wasser.
Dort, so weiß er, würde er in diesen frühen Frühlingstagen die Vögel sehen und hören. Die Stille und Menschenleere genießen können. Vielleicht würde ihm ein Hundebesitzer entgegenkommen, dann würde er freundlich grüßen und sich wieder dem bewussten Erleben hingeben.
Am Kanal angekommen ist es, wie er es vermutete. Kein Mensch ist entlang des schmalen Weges zu sehen. Die eng stehenden Bäume mit ihren tiefen Kronen lassen den Weg wie einen Tunnel erscheinen, auf dessen einer Seite sich die Sonne im Wasser spiegelt. Die Wärme des Wassers und die Kühle der Luft streiten um die Hoheit. Ihr Ringen ist durch leichte Nebelschwaden gekennzeichnet, die über dem Wasser liegen. Ein schräg stehender, in den Weg hineinragender Baum weckt seine Aufmerksamkeit. Er lädt ein, sich anzulehnen, zu verweilen, das Schauspiel, das Nebel, Sonne und Enten aufführen zu beobachten. Wieder lächelt er, während er vollkommen in die Szenerie versunken ist. Seine Hände hat er hinter seinem Gesäß an den Baum gelegt, sich so ein Polster geschaffen und die Möglichkeit, die Rinde mit den Fingern nachzuziehen. Die Klüfte in ihr faszinieren ihn. Sie sind wie Schluchten, wie Straßen auf denen sich das Leben bewegt. Und wie er da so steht, läuft eine Frau an ihm vorbei. Blond und eingepackt in eine Jeans, und dicken Jacke. Sie ist abgelenkt, sieht das Schöne nicht, dass sich ihr bieten würde, wäre ihr Blick nicht auf den kleinen Bildschirm fixiert. ´Warum nur sieht sie das Wasser, die Sonnenstrahlen, den Nebel nicht? Warum nur hört sie die Rotschwänzchen, die Raben und die Enten nicht? Ob sie die frische Luft riecht?´, fragt er sich, als er ihr hinterherschaut. Ihr Kopf ist weiter gesenkt. Ihre Aufmerksamkeit gilt weiter ihrem Telefon. ´Eine Verschwendung´ ist er überzeugt und schaut entlang des Weges in die andere Richtung. Er sieht die Pfützen in dem ausgetretenen Pfad. Sieht das Gras an seinem Rand, das gegen jeden Schuh, jeden Stiefel um das Überleben kämpft, der den Pfützen ausweicht. Längst ist es nicht mehr grün und mit einer Mischung aus Schotterstaub und Erde bedeckt.
Sein Weg entlang des alten Kanals endet an einer Brücke. Sie ist schmal gebaut und aus dem 1900-Jahrhundert. Er erkennt es an den Nieten, den Verzierungen der Geländer und dem Bogen, der sie formt und trägt. In der Mitte angekommen bleibt er stehen. Versinkt beim Blick hinunter zum Wasser in Gedanken. Hofft einen vielleicht zwei Fische zu entdecken, weiß aber zugleich, dass der Nebel diesen Wunsch nicht erfüllen wird. Sein Blick richtet sich deshalb zu den Baumkronen hin zur Sonne. Die Wärme ihrer Strahlen ist für ihn deutlich wahrnehmbar. Mit geschlossenen Augen verweilt er, lässt die Wärme über sein Gesicht in seinen Körper fließen. Erst als er die Augen wieder öffnet, bemerkt er, dass er nicht mehr allein auf der Brücke ist. Die Frau von vorhin. Die Blonde in der dicken Jacke hat sich nur wenige Meter neben ihn gestellt. Sein Blick ist flüchtig und doch deutlich genug, um zu erkennen, dass sie etwas bedrückt. Er merkt, wie all die Freude, die er bis eben verspürte, im Begriff ist, sich aufzulösen. Die Entscheidung, den Kanal auf der gegenüberliegenden Seite zurückzugehen, ist deshalb schnell getroffen. Gerade als er auf Höhe der Frau ist, hört er sie leise die Worte sagen: „Dann eben nicht.“ „Bitte“ fragt er wie in einem Reflex, wohl wissend, dass er nicht gemeint sein kann. „Auch nichts“ wiegelt die Frau ab, die so tiefblaue Augen hat. Da nichts ist, setzt er zum Weitergehen an, wird jedoch direkt angesprochen: „Kenn sie das? Sie suchen und suchen. Hoffen und hoffen. Finden dann etwas, das genau dem entspricht, was sie sich vorstellen, haben letzten Endes aber nicht den Mut, es anzunehmen. Einfach aus dem Grund, weil sie sich nicht vorstellen können wie es danach weitergeht. Was passiert oder passieren kann und dann ist da diese Angst davor enttäuscht zu werden?“
Verwundert bleibt er stehen, dreht sich um. Überlegt und antwortet dann: „Ja, das kenne ich sehr wohl.“ Das „echt“ aus ihrem Mund nimmt er nur noch beiläufig war. „Wissen sie aus dem Grund, bin ich heute hier. Ich stehe vor dem gleichen Problem. Nur eben nicht auf eine Sache, sondern auf eine Person bezogen“, spricht er, während sein Blick sich im Nebel über dem Wasser verliert. Mit ihrem „Sie auch“ kehrt der Fokus zurück. Nun schaut er sie direkt an. „Wissen sie. Ich weiß gar nicht warum“, dann stockt sie. „Ja, es ist schon schwierig mit uns Menschen. Wir sind so in unserem Alltag, in unserem falschen Leben verloren, dass wir es verlernt haben uns zu sehen und dass was uns guttut. Wir haben es verlernt in uns zurück zu kehren. Dorthin, wo wir am gesündesten sind. Und dann verlernen wir die Sprache, die um uns herum ist. Verlernen uns zu und die Natur verstehen“, setzt er fort und hält dann ebenso inne. Sie hingegen findet ihren Mut wieder und setzt fort: „Ich bin da auf dieser Partnerseite. Da ist jemand, dessen Profil mir wirklich gefällt. Der mich neugierig macht. Ich bin da erst seit wenigen Tagen und irgendwie scheint es doch kein Zufall zu sein, gleich und so schnell jemanden zu finden, der nicht so oberflächlich scheint wie die anderen. Heute habe ich ihn angeschrieben und so sehr gehofft, er würde sich zurückmelden. Fehlanzeige.“ Von einer Sekunde zur anderen war er wieder in jenem Strudel, den er hier am Kanal, hier zwischen Bäumen und Wasser, verlassen wollte. Bei seinem Griff in die Jackentasche fällt ihm auf, dass er einmal mehr sein Telefon nicht hat mitgenommen. „Tja, was soll ich sagen. Vielleicht ist er einer von denen, die ihr Telefon schon mal irgendwo liegen lassen, weil es ihm nicht so wichtig ist, wie das hier alles. Die Sonne, der Nebel, die Vögel und die frische Luft.“
Dabei dreht er sich mit ausgestreckten Armen um die eigene Achse. „Ich jedenfalls bin so einer. Hätten Sie es nicht angesprochen, ich hätte nicht in meine Jackentasche gefasst und es wäre mir nicht aufgefallen, dass mein Telefon noch in meinem Fahrzeug liegt. Warten Sie doch einfach, vielleicht muss er auch arbeiten oder ist anderweitig unabkömmlich. Was sind schon zwei oder drei Stunden geduldig sein, in 80 Jahren leben. Was ist diese kurze Zeitspanne im Vergleich zu dem, was sie an schönen Stunden erwarten könnte, wenn er sich doch noch meldet oder sich traut zu antworten und Sie mit ihrem ersten Eindruck recht haben.“ „Ja, sie scheinen recht zu haben“, erwidert die Frau. Für ihn ist es ein Zeichen des Abschieds. Sein Gruß ist eine kurze Handbewegung. Der Weg auf der gegenüberliegenden Seite des Kanals ist frostig. Die Bäume haben die Hoheit über die Temperatur. Mit ihren Ästen schirmen sie das Sonnenlicht und werfen kunstvolle Schatten auf Boden und Wasser. Plötzlich ist der Nebel über dem Wasser kein herrlich anzusehendes Schauspiel mehr. Vielmehr wirkt er bedrohlich, düster und geheimnisvoll. Ohne die wärmende Sonne will sich auch sein Gemüt nicht weiter erwärmen. Tiefer und tiefer fällt er in Gedanken über Mut und Schicksal. ´Ist der Mut des Ritters sein Schicksalsbestimmer oder ist es gar nicht das Schicksal, sondern vielmehr die Tapferkeit des Prinzen, die ihn das Schloss und die Prinzessin erobern lässt.´ Und während er so sinniert, findet er vor sich eine kleine Biene, die die Frühjahresschwäche überkam. In ihr findet er Trost. Sie ist sein kurzer Begleiter, den er auf seinem warmen Finger mitnimmt und später auf der Blüte des Scharbockskrauts niedersetzt. Er weiß, wo das Scharbockskraut wächst, da ist auch Sonne und damit Wärme, die das kleine Wesen braucht, um wieder zu Kräften und zurück zu ihrem Volk zu kommen. Mit dieser Tat erhellt sich auch wieder sein Gemüt und seine Neugierde kehrt zurück. Vom gemütlichen Schritt ist längst nichts mehr geblieben. Ihn treibt es zu seinem Fahrzeug. Zu seinem Telefon. Ob vielleicht? Nein!
Die Enttäuschung darüber ist nicht sonderlich groß. Ihm fällt die Frau auf der Brücke und sein Rat wieder ein. Was sind schon zwei Tage oder zwei Wochen in 80 Jahren leben. Mit diesem Gedanken macht er sich auf den Weg in sein Zuhause. Dorthin, wo das Buch auf ihn wartet, dessen Inhalt ihm schwere Augenlider brachte. Lesen möchte er es dennoch. Viel zu sehr ist an dem Thema interessiert, als das er sich von einer abendlichen Müdigkeit davon abbringen ließe. Mit dem Abend geht der Nachmittag. Das Buch hält nur noch wenige ungelesene Seiten bereit. Zufrieden nimmt er den letzten Schluck Tee, legt er sich in sein Bett und schaut noch einmal auf sein Telefon. Vielleicht hat ja. Nein! Gleichzeitig beginnt in ihm ein Kampf.
Soll er sie jetzt noch zu später Stunde anschreiben oder doch lieber am nächsten Morgen?
********iler Mann
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Themenersteller 
Eine Überraschung
Nein, noch eine Nacht zu warten, würde bedeuten, noch einen Tag oder eine Woche zu warten. Es würde bedeuten, nie den Mut zu fassen, den es braucht, um jemanden kennenzulernen. Jemanden, mit dem sich die Zeit vergessen ließe, mit dem Lachen genauso schön ist wie Kuscheln. Mit dem ein Ausflug auch schon mal in einer verstohlenen Ecke enden könnte. Nach so eine Frau sehnte er sich auch jetzt unter seiner Decke, in diesem großen Bett, in das er sich jeden Abend allein ging und dabei immer den Arm auf die leere Seite legte. So, als würde er darauf hoffen, dort eines Tages eine andere Hand, einen Schenkel berühren zu können. Ganz nebenbei beim Lesen des abendlichen Buches. Und dann würde er mit seinen Fingern über die weiche Haut streicheln, mit einem Auge die Zeilen im Buch verlassen, sehe, wie auch sie in ihr Buch vertieft ist und sich doch ein leichtes und erfreutes Lächeln nicht verbergen kann. Über solche Fantasie allein konnte er sich bereits freuen. Sie gaben ihm eine gewisse Wärme. Sie waren ein Zeichen dafür, dass alles möglich ist. Beinahe wie in den Büchern, die er las.

An diesem Abend, so hatte er den Entschluss gefasst, würde das Buch liegenbleiben, würden Stift und Zettel auf seinen Knien ruhen, während er über die richtige Wortwahl der ersten Ansprache nachsann. Ein „Hi“ wollte er vermeiden. Viel zu plump schien es ihm. Ein „Hallo“ aber ebenso. Was aber würde sich als Einleitung anbieten. „Guten Abend“ schien ihm zu förmlich. Die ersten drei Einleitungen waren bereits auf dem Zettel gestrichen, da begann er den Kopf auszuschalten und einfach zu schreiben:

„Lange habe ich mit mir gehadert, diese Zeile zu schreiben. Lange habe ich dein Profil betrachtet, darauf gehofft, ich würde Dir auffallen. Viel zu lang, wie ich mir eingestehen muss. Am Ende bleibt das Schwarze auf dem weißen Blatt doch eine Aneinanderreihung von Buchstaben, die jeder für sich Worte, die Worte Sätze und die Sätze eine Geschichte ergeben. Um diese Geschichte zu schreiben, sie für andere erlebbar zu machen, braucht es den Anfang. Diesen möchte ich an dieser Stelle tun. Du hast mein Interesse geweckt und ich würde mich freuen, wenn Du mit mir neue Buchstaben zu Wörtern summierst, die Wörter zu Sätzen und die Sätze mir es dann ermöglichen dich auf gleiche Weise kennenzulernen, wie Du mich.“

Als er den Punkt setzte, war es wie eine Erlösung. All die Anspannung, der Kampf zwischen Körper und Geist, zwischen Bauch, Herz und Kopf war vorüber. Nichts quälte ihn mehr im Innern. Er hatte geschrieben, was er fühlte. Diese Befreiung gab einer Müdigkeit Raum, durch die er beim nochmaligen Lesen zusammensackte. Am nächsten Morgen fand er Stift und Block neben sich auf der leeren Seite des Bettes. Die Nachricht war geschrieben, sie war jedoch nicht digitalisiert und abgeschickt. Dass sie nun dort lag, wo er sich eine Partnerin wünschte, schien ihm zunächst nicht wie ein Zeichen. Er war erleichtert, dass er in seinem tiefen Schlaf nicht all das zerstört hatte, was Geist und Herz gemeinsam erarbeitet hatten. Vorsichtig rückte er noch im Liegen das Bettlaken gerade, zog den Block zu sich heran und lass noch einmal, was er am Abend zuvor schrieb. Er lächelte, war sogar ein wenig selbst von sich überrascht. Statt des Telefons trug er nun das Papier mit sich herum. Lass die Zeilen immer und immer wieder, bis er sie auswendig konnte. Erst beim Verlassen des Hauses bemerkte er, dass er seinem Telefon noch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Nicht beim Verbrennen an der heißen Teetasse. Nicht beim Pusten und auch nicht beim Umfüllen es Tees. Die Wichtigkeit war nicht mehr gegeben. Nicht einmal, ob ihm jemand geschrieben haben könnte. Wozu sollte er jetzt noch auf eine Nachricht von irgendjemandem hoffen, wenn er doch vermeintlich gefunden hatte, was er suche. Wo er doch bereit war für den ersten Schritt und ein Kennenlernen. Alle Zweifel, die ihn vorher blockierten, jene, die ihn sich fragen ließen: Was ist, wenn sie nicht antwortet? An was wird es dann gelegen haben? An mir? An der Anschrift? All diese Fragen waren nicht mehr vorhanden.

Am Arbeitsplatz angekommen, schaltete er sein Telefon ein. Öffnete seinen Laptop, wählte sich auf der Dating-Site ein und war verblüfft. In seinem Postfach befand sich eine Nachricht. Für einen Moment zerriss es ihn im Innern. `Eine Nachricht? Ausgerechnet jetzt?` sagte er sich. Wie lieb wäre es ihm gewesen, keine Nachricht bekommen zu haben. An diesem Morgen hätte er sicher keine Enttäuschung darüber empfunden. Jetzt aber war da diese Nachricht, die er gar nicht bekommen wollte. Jedenfalls nicht heute. Nicht, wo er doch selbst eine Nachricht schreiben wollte. Um dies zu tun, musste er das Postfach öffnen, musste sehen, wer ihn anschrieb. Er musste die Zeilen lesen. Und wenn es nun eine Frau war, eine, die ihm bisher selbst nicht aufgefallen war? Er stand von seinem Schreibtisch auf, schaute aus dem Fenster über die Stadt, sah die kleinen Menschen die Fahrzeuge, sah den Horizont und wischte mit der rechten Hand über die Blätter einer Pflanze, die ihm ein wenig Wohlgefühl in das Büro brachte. Dann besann er sich: Wollte er nicht genau das? Wollte er nicht entdeckt werden? Er wurde von jemandem entdeckt. War für jemanden interessant. Seine Art zu denken, zu fühlen, zu leben, war etwas, dass eine Frau dazu bewegte, den ersten Schritt zu tun. Die Schuldigkeit, die Nachricht zumindest zu lesen, die hatte er. Noch immer war die Dating-Site auf seinem Laptop geöffnet. Noch immer prangte die Eins neben dem Briefsymbol. Beinahe mahnend und irgendwie auch fordernd. Ja, die Forderung war berechtigt, er wusste es, so klickte er auf das Briefsymbol und sah, wer ihn angeschrieben hatte. Eine Kate1985. Sie war also nur fünf Jahre jünger als er. Ein Profilbild besaß sie nicht und doch waren ihre Zeilen ihm so willkommen.

„Es ist schon recht spät und ich bin mir nicht sicher, ob Du diese Zeilen noch heute oder erst morgen lesen wirst. Ich habe lange gebraucht, um die passenden Worte zu finden, ja überhaupt die Mauer zu überwinden, die sich vor mir aufgebaut hatte. Wie Du siehst, ich habe sie erklommen, bin oben angekommen und kann nur auf das sehen, was sich mir zeigt. Bisher musste ich diese Mauer nicht erklimmen. Die Nachrichten wurden von den Männern immer über sie hinübergeworfen. Bei Dir war das anders. Deine Beschreibung hat mich fasziniert. Sie ist voller Empathie. In jeder Zeile ist die Ehrlichkeit erkennbar, mit der sie verfasst wurde. Ich bin schon eine ganze Weile hier auf dieser Seite und doch konntest Du mich mit deinem Profil positiv überraschen. Nicht viele Männer lesen. Nicht viele Männer wissen sich so auszudrücken wie Du. Die Neugierde hat gesiegt. Gern würde ich Dich kennenlernen. Eine Antwort von Dir erhalten. Mit Dir schreiben und wer weiß was dann noch möglich ist.
Lass von Dir lesen
Kate“


Die Nachricht berührte ihn. Schaffte es, sein Herz schneller schlagen zu lassen und die eigenen Zeilen für einen Moment zu vergessen.
Mit einem Lächeln drehte er sich auf seinem Bürostuhl, ließ die Wände, die Bilder an ihnen, das Fenster an sich vorbeifliegen. Seine Freude über diese Nachricht, er hätte sie sich nie in dem Maße erträumt. Jetzt galt es zu antworten. Die passenden Worte zu finden. Ein Dilemma, das ihn nur kurz beschäftigte. Beinahe ohne darüber nachzudenken, begann er zu schreiben:

„Ungewohnte Gefühle haben mich heute Morgen eingenommen. Zunächst war es das Gefühl der Überraschung, dann das Gefühl der Unsicherheit und zuletzt überwog eine alte Freundin, die Freude. Ich freue mich über deine Nachricht, über die Worte, die Du gewählt hast. Und ja, ich kenne diese Mauer, für deren Überwindung mir bisher das Rüstzeug fehlte. Nun habe auch ich sie erklommen. Kann verstehen und sehen, was Du beschriebst. Vielen Dank für deine positiven Worte und den Zuspruch, den ich daraus lese. Natürlich habe ich mir auch dein Profil angesehen und Dinge entdeckt, die mir vertraut erscheinen. Säße ich jetzt nicht in meinem Büro, ich würde die Stimmung gern mitnehmen hinaus in die Natur. Würde mir dort dein Gesicht vorstellen und das Singen der Vögel als musikalische Untermalung verstehen.
Vielleicht ist es noch etwas verführt, doch möchte ich die Konversation sehr gern mit Dir fortführen, deshalb gestatte mir die Frage danach, wie Du die notwendige Erdung erreichst, die wir alle von Zeit zu Zeit benötigen? Dass Du gern liest, eröffnet natürlich weitere Perspektiven zu Gesprächen. Ich freue mich von Dir zu lesen.
Luke alias LebeWesen“


Von nun an war es ihm stärker als zuvor ein Bedürfnis, danach zu schauen, ob er eine Nachricht erhalten hatte. Die Spannung, die Vorfreude waren so enorm, dass er zeitweise das Arbeiten vergas und sich mehr und mehr in das Profil von Kate1985 hineinlas. Kleine Details in der Schriftsprache vielen ihm auf. Dinge, aus denen er ihr ein freundliches und lebensbejahendes Gemüt zuschrieb. Ein wenig hatte er sich bereits in sie verlesen. Denn vergucken konnte er sich nicht. Sie hielt es wie er. Keine Bilder, auf denen ein Gesicht oder gar die Körperform zu erkennen war. Nur die Angaben im Profil konnte hier Anhaltspunkte liefern. Sie kochte gern, las gern. Ging gern spazieren, war also gern in der Natur. Sie hatte keine Kinder, rauchte nicht und schien ebenfalls studiert zu haben. Alle anderen Dinge zu beschreiben, hätte er auch für unnötig befunden, war er sich nun sicher. Wozu wollte er wissen, welche Haarfarbe, welche Augenfarbe, welche Körpergröße und welches Körpergewicht sie hatte. Er wollte den Menschen kennenlernen und niemanden durch eine Schablone quetschen. Genau mit diesem Vorsatz hatte er sich angemeldet, genau nach diesem Vorsatz ist er bei der Betrachtung der einzelnen Profile vorgegangen und doch hatte er am Ende beinahe eine Frau angeschrieben, die sich ganz unbewusst gläsern gemacht hatte. Von der es scheinbar nichts mehr zu erfahren gab. Er war froh, es nicht getan zu haben. Ein wenig danke er Kate1985 sogar dafür, dass sie ihn angeschrieben, ihn neu genordet, ihn von der Oberflächlichkeit zurückgeholt hatte. Nun war er sich sicher: sein Anschreiben hätte perspektivisch nicht den Erfolg gehabt, den er damit verbinden wollte. Vielleicht hätte er eine Antwort bekommen. Vielleicht hätte er nett hin und her geschrieben. Am Ende wäre es ihm doch zu oberflächlich gewesen, um daraus ein Miteinander entstehen lassen zu können. An Intimitäten, so gern er diese auch mit einer Frau austauschen würde, wäre bei einer solchen Oberflächlichkeit ohnehin nicht zu denken gewesen. Bei Kate1985 waren die Voraussetzungen anders, da war er sich schon bei ihrer Antwort auf die seine sicher.
********iler Mann
767 Beiträge
Themenersteller 
„Deine Gefühlswelt kann ich sehr gut nachvollziehen. Um ehrlich zu sein, es ging mir nach dem Absenden der Nachricht und dem Empfang deiner Antwort ähnlich. Wie Du sicher schon herausgelesen hast, hatte ich bisher noch nie den ersten Schritt getan und einen Mann angeschrieben. Entsprechend rastlos waren meinen Gedanken. Ich konnte einfach nicht abschätzen, ob Du dich überhaupt auf meine Nachricht melden würdest. Nun bin ich umso erfreuter und darf Dir verraten, dass ich mich bereits in der Natur befinde und die Arbeit tatsächlich habe liegen gelassen. Deine Beschreibung von den Vögeln, die Dir etwas vorsingen, hat mich inspiriert, diese Erfahrung machen zu wollen. Die Vögel singen zu hören, während ich mir dein Gesicht frei jeder Beschreibung vorstelle. Ganz so einfach ist das zwar nicht so ohne Hinweise, doch es ist zumindest schön, die verschiedenen Stimmen aus den Bäumen herabklingen zu hören. Um Dir eine Vorstellung von mir zu erleichtern, wenn Du denn nach dem Feierabend und meiner Nachricht noch den Reiz verspürst, dann denke an blaue Augen, an blondes Haar. An eine typische Blondine eben.
Jetzt habe ich schon wieder viel zu viel geschrieben.
Kate“


Dass sie zu viel in ihre Antwort hineinformuliert haben könnte, sah er ganz anders. Für ihn waren das Lesen des Geschriebenen viel zu schnell vorbei. Er hing an jedem ihrer Worte. Gab ihnen Raum, sich in ihm auszubreiten. Sog sie auf, wie alles, dass er betrachtete. Selbst ihr Stil, sich auszudrücken war für ihn Anlass einer Euphorie. Kein Wort war zufällig. Beinahe angeordnet von einer höheren Macht. So wie die Planeten im Sonnensystem, die Sonnensysteme in den Galaxien und diese im Universum. Alles folgte einem Schema. Für ihn auch ihre Worte. Noch hatte er drei Stunden vorüberzubringen. Die Ausarbeitung für einen Kunden zu beenden, die er nur halbherzig begonnen hatte. Er konnte ihr nicht antworten. Seine Verpflichtungen waren zu groß, als dass er sie unbeachtet lassen konnte. Der Versuch, sich zu konzentrieren, war fluktuieren von einem Auf und Ab begleitet. Immer wieder gelangte ein Bild vor sein inneres Auge. Eine blonde Frau, die vor ihm lief, der er folgte, ohne sie zu verfolgen. So, als seien sie zwei Glieder einer Kette. Diese Gedanken waren nicht sehr hilfreich bei seiner Tätigkeit. Sie waren aber wohltuend und das reichte ihm. Noch eine Stunde hatte er Zeit. 60 Minuten, die nicht ausreichten, dass vor ihm Liegende zu bewältigen. Egal, wie hoch er das Arbeitspensum ansetzen würde, eine Stunde war zu wenig. Er musste die Strategie ändern. Statt sich aufzuopfern, entschied er sich für einen taktischen Rückzug. Ohne zu zögern setzte er Prioritäten, entschied sich für die weitere Unterhaltung mit Kate und gegen den Kundenauftrag. Diesem verschaffte er durch ein einfaches Telefonat ein zeitliches Polster.
Befreit von einer Last, die er bis dahin noch nie so empfunden hatte, begann er Kate zu antworten:

„Ich freue mich für Dich, dass Du es genießen kannst, Amsel, Rabe und Elster zu hören. Dich auf das, was dich umgibt, einzulassen. Viel zu oft geben die Menschen diesen Dingen nicht den Platz, die sie verdient haben. Ich werde meinen Arbeitsplatz nun auch verlassen und mich ein wenig im Wald verlieren, den Spuren des Wildes folgen und am Wechsel zum Feld niederlassen, um meine braunen Augen zu schließen und mich Dir mit blondem Haar und blauen Augen vorzustellen. In Gedanken werde ich deine Zeile noch einmal lesen, die keineswegs zu viel waren. Jedes Wort habe ich genossen. Vielen Dank dafür. Und auch wenn es der Zeilen nicht genug sein können, nehme ich mir doch auch ein Buch mit. Eines, das ich zum wiederholten Male lese. Es ist ein Buch, das wenige Anhänger gefunden hat, in seiner Tragik aber immer wieder zum Nachdenken anregt, wie schnell das mögliche Leben vom gekonnten abweicht.
Luke“


Mit dieser Nachricht hatte er den Anstoß zu einem literarischen Hin und her gegeben. Viele Tagen umspann sich ihr Schreiben einzig an der Literatur, an Büchern, Schriftstellern und ihren Werken. Immer mehr erkannten die beiden, dass sie im Gegenüber nicht nur eine verständige Person gefunden hatten, sondern jemanden, der sie kannte, ohne dass er sie wirklich kannte.
Zwar viel ihm immer wieder auf, dass Kate mehr in der Lage war, den Käfig zu verlassen, der uns alle irgendwie umgibt. Während er seine Verantwortung auch gegenüber seiner Firma, seinen Kollegen, seinen Kunden als Notwendigkeit erachtete, war sie in vielen Dingen dem eigenen Leben mehr zugewandt als dem von Menschen, die für sich nichts Positives bewirken konnten. So frei er sich auch selbst empfand in seinem Leben, so gefangen war er doch durch das der anderen. Diese Erkenntnis überraschte ihn und zog ihn emotional noch näher an sie. Beinahe wie zwei Magneten, die ruhig nebeneinanderliegen können, bis sie sich zu nahekommen und dann voneinander angezogen werden. Ja, dieses Bild hatte er im Kopf. Sie war das Proton und er das Elektron. Ihre positive Art, die auf ihn so sonderbar befreiend wirkte, war etwas, dass er trotz seines freien Lebens bei noch keinem Menschen spüren konnte.
An einem Samstag schrieben sich beide im Minutentakt. Nichts konnte sich zwischen sie drängen. Bis ihm schwindlig wurde. Kurz entschlossen fuhr er an den alten Kanal. Dorthin, wo er das Gras gegen die Erde hatte sich behaupten sehen. Dort, wo der Nebel über dem Wasser stand. An diesem Tag stand die Sonne schon sehr hoch. Die Temperaturen waren vorsommerlich, weshalb er auch die Jacke zu Hause ließ und sich mit seinem Lieblingspullover zufriedengab. Auf dem schmalen Weg dort am Ufer drängten sich die Menschen. Nur die großen Karpfen, die sich dicht unter der Wasseroberfläche sonnten, blieben davon ungestört und meinst auch unbeachtet. Nur ein paar Kinder wiesen ihre Eltern auf die Tiere hin. Meist ohne eine merklich positive Reaktion hervorzurufen. Keine Stimme war aus den Kronen der Bäume zu vernehmen, dafür Musik aus Kopfhörern, die tief in Ohren steckten. Ja, heute hatte das Gras wirklich zu kämpfen. Viele Schuhe hatte es auszuhalten und kaum ein Halm blieb davon verschont. Ein wenig ärgert es ihn, wie die Menschen sich verhielten, wie sie sich dicht aneinander vorbei drängten, keine Richtung zu kennen schienen. Wie sie alle nur auf sich bedacht waren. Nicht einmal die Gelegenheit, sich an einen der Bäume zu lehnen, die Rinde mit den Fingern nachzuzeichnen, sich mit dem Baum und damit der Erde zu verbinden, blieb ihm. Tief seufzend kam er an der Brücke an. Jene alte Brücke, die so viele Menschen hatte schon vorübergehen sehen. Ihr war es anzusehen, was sie heute leistete. Kinder sprangen auf ihr herum, Läufer stampften mit ihren Sportschuhen, statt leicht über sie hinwegzulaufen. Fahrradfahrer kreuzten die Wege der Passanten und er hatte gar keine rechte Lust mehr, hier zu sein. Eine Benachrichtigung auf seinem Telefon hielt ihn doch kurz noch auf. Genervt lehnte er sich an das Geländer, nahm das Telefon aus der Tasche und sah, dass es eine Nachricht von Kate war.

„Ich sehe eine blinde Menschheit. Nicht, weil sie nicht sehen kann, weil sie nicht sehen will. Wenn es nicht so traurig wäre.“

Er verstand, was sie meinte und schrieb sofort zurück:
„Würden die Menschen erblicken, was sie sehen, es würde sie zum innehalte zwingen. Das aber können sie nicht, denn sie müssen sich immer weiter beschleunigen, bis sie aus der Bahn geworfen werden.“

Kurz nachdem er die Nachricht abschickt hatte, hörte er wieder den typischen Signalton der Dating-Site. Leise zwar, aber doch wahrnehmbar. Er wunderte sich, dass Kate so schnell ihre Antwort hatte schreiben können. Also er auf sein Telefon schaute, war da aber keine Nachricht. Verwundert dachte er für einen Moment daran, er könne sich verhört, könnte das Geräusch bereits unterbewusst als Belohnungssignal abgespeichert haben. Dann jedoch kam es wieder, diesmal lauter und diesmal erhielt er tatsächlich eine Nachricht.

„Kannst Du dich noch erinnern? Blaue Augen, blondes Haar? Egal auf welcher Brücke wir stehen, es gibt immer ein kommendes und ein gehendes Ufer. Für welches entscheidest Du dich?“

Irritiert und überrascht wusste er nicht zu antworten. Hielt über längere Zeit sein Telefon in der Hand, blendet die Menschen ihm sich herum aus und las die Nachricht wieder und wieder. Unheimlich empfand er es, dass sie von einer Brücke sprach, wo er doch auf eben einer stand.
Wieder ertönte sein Telefon.
Diesmal lautete die Nachricht:

„Wer sich zu sehr fokussiert, verliert den Blick für sein Umfeld. *zwinker*

Noch in Gedanken versunken, dass Gelesene analysierend, schaute er auf, schaute die Brücke entlang auf das Ufer, von dem er kam, hinüber auf das andere. Da sah er auf einer Bank unweit der Brücke eine blonde Frau sitzen. Als sie erkannte, dass er sie ansah, da lächelte sie. Noch einmal schaute er auf sein Telefon.

„Wer nur steht, findet in sich keine Ruhe. Oftmals bietet eine Bank einen guten Platz, um sich neu zu ordnen. Ich mag keine Stunde und keine 80 Jahre mehr geduldig sein.“

Mit dem letzten Wort zogen sich seine Mundwinkel nach oben. Er steckte das Telefon in seine Hosentasche und ging zur Bank. Zu der Frau, die ihn aus gut 20 Metern Entfernung hatte angelächelt. Als er vor ihr stand, war er überrascht. „Kate?“, frage er. „Ja und Du bist sicher Luke. Schön Dich kennenzulernen.“ Sie kannten sich bereits. Sie hatten sich bereits getroffen, einige Worte gewechselt. Auch er erkannte sie wieder. Jene Frau die erst an ihm vorbeigegangen, dann auf der Brücke wiederbegegnet ist.
Nachdem er sich gesetzt hatte, lachte sie.
„Das hätten wir vor Wochen auch einfacher haben können.“
Verlegen antwortete er „Ja“. Wenn der Fokus nicht stimmt, dann ist das Nahe so verschwommen, dass all das in der Ferne verlockend wirkt.
Wie von selbst fanden sich ihre Hände wie von selbst ihre Augen und schließlich ihr Kopf seine Schulter. Sie unterhielten sich, als würden sie sich schon immer kennen. Lachten machten Scherze und wurden gleichzeitig immer inniger miteinander. Kein Kaffee, kein vorheriges Telefonat hätte dies bewirken können. Noch als sich die Menschenmassen in ihre Häuser zurückzogen, die Wege entlang des alten Kanals sich entvölkerten und die Stimmen der Vögel wieder aus den Baumkronen zu hören waren, saßen sie da in der Abendkühle. Sie hatten alles gesagt und genossen schweigsam ihr Beisammensein und die Eindrücke, die sich ihnen ringsum auftaten.
********lara Frau
6.501 Beiträge
Zitat von ********iler:
Wenn der Fokus nicht stimmt, dann ist das Nahe so verschwommen, dass all das in der Ferne verlockend wirkt.

Welch schöner Satz, der gleichzeitig die Moral von der Geschichte ist! Es war ein Genuss, sie zu lesen!
********iler Mann
767 Beiträge
Themenersteller 
Zitat von ****na2:
Zitat von ********iler:
Wenn der Fokus nicht stimmt, dann ist das Nahe so verschwommen, dass all das in der Ferne verlockend wirkt.

Welch schöner Satz, der gleichzeitig die Moral von der Geschichte ist! Es war ein Genuss, sie zu lesen!

*danke*
Schön, dass jemand meine versteckte Botschaft verstanden hat *blumenschenk*
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