IV.
Im Traum sucht eine brutale Nahaufnahme der Sonne den Mond heim und lässt ihn aus dem Schlaf hochfahren. Nur auf den ersten Blick ein müdes Gesicht, denkt der Mond, in Wahrheit ein ausgelaugtes, ein verlebtes Gesicht.
Kann das nur das Alter sein? Oder ist sie vor kurzem von einem jungen Liebhaber verlassen worden? Oder sieht eine Sonne gar so aus, nachdem sie vergewaltigt und ihr Gewalt angetan worden ist? - Was genau sieht er? Er versucht sich darüber klar zu werden.
Ihm fällt Marc Aurel im Zitat von Seneca ein: "Was ist Liebe? - Einfache Schleimausscheidung."
Und es ist genau die Trostlosigkeit dieser Worte, die er in das Gesicht der Sonne geschrieben sieht. Eine Liebe ohne Achtung und Respekt, ohne Ehrfurcht und Einzigartigkeit - dafür auf der biologischen Ebene eine beliebige Fickerei mit austauschbaren Gespielinnen und/oder Toyboys. Benutzt und weggeschmissen, das ist die Sonne, das wurde die Sonne.
Das ist aber nur die eine Seite. Die andere: Wenn er an die Erde denkt, dann hat es der Sonne auch gefallen - über den Umstand, dass sie gefällt, bezieht sie ihre Daseinsberechtigung. Nie hat sie daran gedacht, was ist, wenn dem nicht mehr so ist.
Und so gewinnt der Mond eine geradezu nächtliche Erkenntnis: Die Sonne als Zentralgestirn ist der bloße Körper einer göttlichen Idee, zur Verwendung für jedermann, ein Body für Buddies, Planet Obernutte - ein Scheißschicksal, zugegeben, bloß funktionieren zu müssen, ohne dabei jemals von einer (göttlichen) Idee wie echter Liebe gestreift zu werden. Die Arme! Seit nunmehr fünf Milliarden Jahren ist sie so im rein Faktischen, in ihrem Dasein als Körper gefangen, darf strahlen und leuchten und Wärme abgeben - allerdings ohne Gegenleistung, ohne Dankbarkeit, gebraucht, verbraucht stattdessen und das hat in ihrem Gesicht überdeutliche Spuren hinterlassen. Erst aufgequollen bis zur Unförmigkeit, nur um dann zusammenzufallen bis zur Unkenntlichkeit - dagegen helfen weder Schminke noch plastische Chirurgie.
Da helfen auch keine mehr oder weniger suboptimalen Ideen, um nicht zu sagen profanen Gedankenfürze, es sei gut, was sie macht und alle würden sie darum lieben!? Sind es doch genauso lächerliche wie platte Rechtfertigungen ihrer angeblichen Liebhaber und Liebhaberinnen, auf die sie nun wirklich nicht angewiesen ist, denn sie weiß allzu gut, dass niemals sie gemeint ist, sie als Frau, sie als einzigartiges Wesen, sondern immer nur die ihr übertragene Funktion. Somit ist ihr über die Maßen klar, dass sie immer nur geben muss, immer mehr geben muss, bis einfach nichts mehr von ihr übrig ist und sie verschwindet, ohne dass sich irgendjemand an sie erinnert, ohne dass sie in irgendeinem Herz weiterlebt, sei es aus Liebe oder sei es, dass irgendwo in einer Bilanz vermerkt steht, was sie tatsächlich durch die Äonen geleistet hat und zwar selbstlos bis zur Selbstaufgabe - und genau das wird dem Mond als er es denkt wieder mittels des Präteriums bewusst: Sie ist ja nicht mehr, es gibt sie nicht mehr, als Leiche wurde sie doch unlängst aus dem Wasser gefischt und im Traum ist ihm eine Tote und wenn man so will, ihre Wahrheit erschienen.
V.
"Was soll ich anziehen," fragt sich die Erde, als sie sich selber im Spiegel ihres offen stehenden Kleiderschranks betrachtet?
Der Mond kommt am Abend zu Besuch und wieder hat sie ein Problem, das mit ihm zusammenhängt. Aber wenn sie ehrlich ist, muss sie zugeben, dass sie sich dieses Problem selbst eingebrockt hat, denn schließlich hat sie ihn eingeladen ... dabei hat sie genug von dieser On-Off-Beziehung mit ihm. Tagelang lässt er sich überhaupt nicht blicken, nur um dann wieder zu erscheinen, spärlich und rar zuerst, um ihr dann ganz und gar auf die Pelle zu rücken, dass sie selbst beinah von seiner nicht mehr weichen wollenden Präsenz an ihrem Himmel erdrückt wird, von seinem Licht, seinem Zauber, seiner betörenden Fremdartigkeit, seinem ihre Fantasie beflügelnden überschäumenden Geheimnis.
Wie anders war im Gegensatz zu ihm ihre Freundin die Sonne!? Sie war immer da. Ein bisschen langweilig, das schon, doch gleichbleibend, vorhersehend, auf sie war Verlass und ihr konnte sie uneingeschränkt vertrauen. Allerdings ist sie nicht mehr. Heißt es dann nicht, auf das bauen, auf was man hat? Ist sie vielleicht einfach zu streng mit dem Mond? Sind ihre Ansprüche zu hoch? Er hat sein Leben wie sie das ihre. Und was sie ihm zugute halten muss, ist, dass er nie ganz verschwindet, immer kommt er zu ihr zurück, immer ist er da, irgendwie, auch wenn sie ihn nicht sieht, aber sie spürt ihn.
"Was soll ich anziehen?" - Sie weiß es immer noch nicht. Obwohl diese Frage sie mit allen anderen Frauen der Welt zu einen scheint, verhält es sich bei ihr doch ganz anders. Andere Frauen können sich einfach nicht entscheiden. Mag sein, dass die nicht wissen, was sie wollen, mag sein, dass die weder ihren eigenen Typ kennen, noch wie sie ihre Vorzüge betonen sollen und wie etwas Unvorteilhaftes zu kaschieren ist, weil die Eigenwahrnehmung der Fremdwahrnehmung peinlich hinterherhinkt - nein, die Erde quält vielmehr die Frage, welche Kleidung einerseits exakt dem Anlaß entspricht und wie sie andererseits mit wohlüberlegtem Understatement ohne viel Aufhabens dem Mond gefallen könnte?
Sie sagt sich, dass es ein formloses Treffen sein wird, eventuell mit einem Abendessen (das hat sie zum Glück schon vorbereitet und diese Option ist damit offen und ist ihm Kühlschrank - wenigstens das ...).
Sie kann aber auch nicht sagen, dass es ein umstandsloser Besuch sein wird, denn die Sonne ist tot und es laufen dazu polizeiliche Ermittlungen. Auch ist sie sich nicht sicher, welche Leidenschaft sie mit dem Mond tatsächlich verbindet ... Liebt er sie noch? Brennt er nach wie vor für sie? Was mutmaßt er, was sie mit der Sonne verbunden hat? - Und: Was empfindet sie eigentlich für den Mond? Die Antwort darauf, ist sie sich immer noch schuldig.
Soll sie etwa nichts anziehen!? - Soll heißen: Soll sie so bleiben, wie sie ist in Jeans, einer Bluse mit Pulli drüber und Sneakers?
Hmmm, aber immerhin handelt es sich nicht einfach um irgendeinen Gast, der Mond ist ein Freund und Nachbar, man kennt sich schon ewig. Wie ihm also die richtige Art der Achtung nach außen, sprich mit ihrer Kleidung, erweisen?
Den beigen Mini ihrer Stände mit dem Blau der Adria als Bluse? - Nein, auf keinen Fall.
Das schwarz-braun Gesprenkelte eines Gebirges? Das grün- gelbe von Wiesen und Feldern? Das Bunte mit den Applikationen aus Blumen und Blüten? - Nein, alle viel zu aufwendig, zu verspielt auch.
Das kleine Schwarze ihrer Nacht? - Um Gottes Willen, nein.
Okay, das Weiße des gleißenden Lichts der Arktis ... schon besser, aber ist sein Ausschnitt nicht viel zu tief - ist ihr Wille zum sexuellen Aufsehenerregen wirklich so groß, hat sie es so nötig?
Oh Mann! So ein Mist, wenn man nicht weiß, was man anziehen soll ...
Dann verfällt sie in ihrer Not auf einen anderen Gedanken: "Wie wird wohl der Mond kommen? Wenn sie sich ihm kurzerhand angleicht? Also Partnerlook?"
Aber er wird sicherlich erscheinen, wie er gerade ist. So wie sie ihn nämlich kennt, ist es nicht so, dass er auf Äußerlichkeiten keinen Wert legt, weil er als Mensch (was immer das sein soll) punkten will und nicht als Dressman. Das ist vielleicht sogar männlich, eine männliche Achtlosigkeit, bzw. Zweitrangigkeit. Und wenn ihre Einladung für den Mond sowieso einen eher informellen Charakter hat? - Ja dann kommt er erst recht normal in seinem Alltagslook. In seinem drei Jahre alten Pulli, der schwarzen Jeans und der Cordjacke mit den Flicken an den Ellenbogen ...
Okay, noch eine Überlegung. Es soll weder glanzvoll noch betörend sein, was sie anzieht, sie will ihn nicht verführen, nein, aber sie doch auf dezente Art, sophisticated quasi, also auf nüchterne Weise, dennoch elegant, doch nicht übertrieben vornehm ... oh Gott, endlich ist ihr klar, dass sie eine ganz bestimmte Note im Sinn, ehrlicher: im Gefühl hat, die sie aber schlicht und ergreifend nicht in ihrem Kleiderschrank finden kann.
Und es könnte nicht furchtbarer sein - einerseits - denn diesen unentschiedenen Moment hat sich ausgerechnet der Mond ausgesucht, um zu klingeln.
"Schon schade," räumt sich die Erde ein und ihr wird sofort klar, dass sie die Gelegenheit nutzen wollte, um aus ihrer Routine auszubrechen mit etwas anderem zum Anziehen, eine Art Miniurlaub oder so etwas in der Richtung.
Und - andererseits - atmet sie befreit durch, als sie ihren Gast empfängt und dabei verschmitzt denkt: "Uff, schlußendlich ein Problem weniger!"
VI.
So viele Plagen und Mühen, nur um am Ende mit physikalischen Banalitäten konfrontiert zu werden?
Nicht aus diesem Grund, sondern weil sich vielmehr keine DNA eines potentiellen Täters in der Datei der Polizei findet und dem Umstand geschuldet, dass das Meer alle Spuren weggewischt hat, die irgendeinen Anhaltspunkt oder Indiz hätten liefern können, stellen die mit der Tat betrauten Kriminalbeamten zwar ihre Ermittlungen nicht ein, aber sie lassen sie ruhen und wenden sich anderen Aufgaben zu - früher oder später wandert die Akte der toten - ermordeten? vergewaltigten? Sonne - in das Archiv.
Der Mond indes wird tief eingetaucht in den sandigen Grund des Kleides der Erde, wird in ihr Rätsel gestoßen, ohne auf einen Kern zu treffen - aber ist das nicht das Wesen der Liebe, dass sie nicht rational begründet werden kann?
Egal.
Der Wind vom Meer her lässt den Mond frösteln, auch wenn er in der Gegenwart der Erde versucht, sich nichts anmerken zu lassen.
Mensch! Wenn er ihn doch fragen könnte, den Wind, den Sonnenwind, den radioaktiven Wind aus dem All, der unaufhörlich zwischen Sonne, Mond und Erde weht!? Denn er ist der Zeuge, der alles sieht und gesehen hat. Er muss der gesuchte Zeuge sein, der den letzten Akt der Sonne, ihren Tod, das Verbrechen, am Ende sogar zwei Verbrechen gesehen hat. Der Sonnenwind weiß alles, aber er schweigt. Geht allem aus dem Weg. Lässt sich weder festhalten, noch auf ein Kommissariat zur Befragung bestellen. Unbeteiligt und gleichgültig hat er über das Verbrechen geblasen und unbeteiligt und gleichgültig weht er weiter über Mörder, Leichnam, Schicksal, Notwendigkeiten, Gesetzmäßigkeiten - ohne Zeit, ohne Raum - er ist frei, wirklich frei.
Wie viel kostet eine Lüge? Hat er am Verbrechen mitgemacht? Trifft ihn nicht eine Mitschuld? Nicht gerade aktiv. Zumindest aber akzessorisch. Er hat die Sonne mittels Wellen an den Strand getrieben, wo sie aufgefunden wurde. Und ebenda hat er wieder mit Wellen eventuelle Spuren weggewaschen.
Doch es ist zwecklos, ihn irgendetwas fragen zu wollen, er weiß nichts. Er wird ausgestrahlt von Kernen, denen er gehorchen muss und auf der Erde, wird er zwischen warmer und kalter, zwischen aufsteigender und fallender Luft hin und her getrieben. Er weiß nicht, was er tut, noch was sein Tun anrichtet. Er ist ein Meister der Indirektheit, des Unmittelbaren.
Er hat nicht einmal eine vage Ahnung der Bilder, die er evoziert. Er ist ein Teil eines Ganzen, das weit jenseits dessen ist, was auf der Erde auch immer passiert.
Wer weiß da schon, dass die Sonne von einem riesigen Meteoriten getroffen wurde, der sie aus ihren Bahn geworfen hat und schlußendlich durch ein Übermaß an Schwerkraft in sich selber zusammenschrumpfen gelassen hat? Dass die Strahlung, der er mit sich aus dem All geführt hat, die Grundlage für anderes, neues Leben immer und überall bringt, die Sonne sozusagen befruchtet hat, dass es Menschen vorkommen musste, sie sei vergewaltigt worden? Dass in der Folge die Erde, der Mond, dieses System der Sonne in sich zusammenstürzt, um Anderem, Neuem Platz zu machen? Vielleicht etwas Besserem Platz macht? Vielleicht etwas Weiterentwickeltem Platz macht?
Niemand weiß das, weil nicht sein kann, was nicht sein darf ...
So also wird der Mond nicht nur in das sandige Kleid der Erde gestoßen, auch wenn es so aussieht, er wird mit ihr ganz und gar verschmelzen, eins werden. Er wird irgendwohin eingezogen, gleichzeitig in die Länge gestreckt. Schon kann er kaum mehr atmen. Ihm ist, als würde sein Ich aus dem Steißbein hinausgebügelt. Er hat keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Er bebt. Er ist schweißgebadet und friert doch. Hart stößt er mit Steinen und Felsen zusammen, wird hart an der Schläfe getroffen, sieht, wie seine Beine von ihm wegfliegen, er registriert, wie seine Haut aufreißt, seine Zähne ausgeschlagen werden, wie sich alles dreht, immer schneller, wie komischerweise alles um ihn herum bunt wird und leuchtet, wie er plötzlich leicht wird, wie er schwebt, wie er sich immer schneller um seine eigene Achse dreht, wie nichts mehr so ist, wie es ihm bekannt war - wo ist die Erde? Will er noch kurz wissen ...
Gemeinsam mit der Erde stirbt er. Und mit den beiden stirbt alle Romantik, wie alles stirbt.
Was dann kommt? - Lassen wir uns überraschen. (Vermutlich aber kommt gar nichts).