Das Leben
Außerhalb der Zeit fühlte sich Wyn, weil er schon die zweite Nacht in Folge irregulär nicht schlafen konnte und stattdessen lieber seine internen und externen Speicher weiter sortierte, entmüllte und auch defragmentierte, bevor seine Mumu eingreifen und ihm die Prioritäten (vor)lesen konnte. Die hatte sich nämlich angekündigt, weil es ihr kleiner Wyn mal wieder nicht auf die Reihe bekommen hatte, sich seiner Alltagslasten zu entledigen, um sich danach schließlich klaren Kopfes das Pfeifchen der Gewinner anzuzünden. So jedenfalls flüsterte es ihm seine verblichene Mumu ein, die ihn in solchen Fällen der Aufschieberitis immer wieder heimsuchte, um sein Hirn in die Dramatik zu stürzen.
Wyn fühlte sich erschöpft und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Selbst nach der gefühlt zigsten Kanne Grünen Tee nicht mehr. Schließlich war es kurz vor Mitternacht, als seine Klingel schrillte und ihn aus seinem inneren Chaos riss. Er schlurfte zur Tür und wunderte sich über das laute Rumoren im Treppenhaus.
Das Schloss rastete wie geschmiert ein und wieder aus, bevor er die Wohnungstür vorsichtig einen Spaltbreit aufzog. Gerade so weit, dass er hinausspähen konnte, ohne dem drohenden Eindringling allzu viel von seiner Privatsphäre preiszugeben.
Unwillig blinzelte Wyn in das grelle Treppenhauslicht hinaus und blickte in weit aufgerissenen Augen eines unrasierten, verschwitzten Gesichtes, dessen Haut rosig wirkte und die Wangen gut durchblutet schienen.
Ihm fiel ein, dass vor ihm nur sein Nachbar von untendrunter stehen konnte, der heute schon einmal bei ihm geklingelt hatte. Nämlich am frühen Nachmittag, um sich bei ihm eine Flasche Wein auszuborgen. Und selbst da hatte er diesen schon ungeduldig abgewimmelt. Wie konnte ihn jemand auch ernsthaft nach Alkohol fragen, wo er selbst doch schon seit Jahrzehnten keinen mehr getrunken hatte. Aus Gründen, die nur ihn etwas angingen.
Wyn zog seine Stirn kraus. Die Kiefergelenke taten ihm weh und sein linkes Knie schmerzte wieder. Er blaffte seinen Nachbarn an: „Was? … Ham’se mal auf die Uhr geschaut?“
Und Berti, so hieß nämlich sein Untendrunter, dass hatte dieser ihm noch ein paar Stunden zuvor ungefragt anvertraut, schien um die Hälfte seiner gebeugten Körperhaltung zu schrumpfen, bevor er losstammelte, dass er sich ausgesperrt hatte.
Wyn betrachtete sein Gegenüber. Er sah einen vielleicht Mitdreißiger vor sich, der geweitete Pupillen hatte, nur in Unterwäsche gekleidet war und barfuß vor ihm stand. Und er fand, dass Berti so gar kein Vertrauen in ihm erweckte und ihn auch in seinem augenblicklichen Sein störte.
Ergo murmelte er in seinen noch nicht vorhandenen Bart hinein, mehr zu sich selbst als zu seinem Nachbarn, dass er Berti nicht helfen könne und schob mit Kraft seine Wohnungstür zurück ins Schloss.
Danach verbarrikadierte Wyn sich mit Kopfhörern und Entspannungsmusik in seinem Bett, um vielleicht doch endlich seinen Schlaf zu finden.
Gefühlte Stunden später, er hatte die Draußengeräusche im Treppenhaus nicht gänzlich aus seinem Kopf ausklammern können, schlief er endlich ein und träumte von einer guten Fee, namens Berta, die ihn mitten in der Nacht aufsuchte, seine Tür mit ihren Springerstiefeln eintrat, ihn sich bäuchlings über die Schulter warf und in ihr Feenreich entführte, damit er mit ihr endlich das Leben feiern und seine Fußsohlen zertanzen konnte.
Irgendwann gegen halb Zehn Uhr am Vormittag erwachte Wyn und fühlte sich wie gerädert. Wieder eine Nacht, gänzlich ohne Rhythmus verbracht. Doofer Urlaub, dachte er sich. Und heute bekomme ich auch noch tatsächlichen Besuch, den ich schlecht wieder ausladen kann und auch nicht will.
Missmutig schlurfte er durch seine Wohnung und zündete überall sein Räucher- und Duft-Gewerk an, bevor er in den großen Mosaikspiegel im Bad blickte und sein zerknittertes Gesicht betrachtete. Erstaunt stellte er dabei fest, dass er Konfetti hinter den Ohren und auf seiner Glatze kleben hatte, lachte unwillkürlich sein Spiegelbild an und nicht aus.
© CRSK, Le, 05/2020