Natürlich verschafft mir Optik auch einen ersten Eindruck. Allerdings ist dieser Eindruck dann doch eher unspektakulär, von Extremen mal abgesehen, wo jemand wirklich krass und enorm aus einer Masse heraussticht und auf mich durch bestimmte Details ungewöhnlich schön oder abstoßend wirkt. Solche Encounter sind wahnsinnig selten - und genauso wie die überwiegenden eher "neutralen" Encounter nehme ich sie zwar wahr, vergesse sie aber auch recht schnell wieder.
Ich weiß nicht, ich gucke mir einen Menschen einfach erst dann genauer an, wenn mich mehr Infos jucken als nur die reine Optik. Ja, ich nehme die Optik wahr. Ich "siebe" diesbezüglich nur insofern, als dass es sehr wenige Menschen gibt, die ich aufgrund dieser Optik allein nicht anziehend finden kann. Die meisten Menschen fallen gar nicht in diese Kategorie. Und wirklich "sieben" kann ich nur, wenn sich eine persönliche Ebene anbahnt, mir ist das doch wurscht, wie irgendwer aussieht, der nur an mir vobeiläuft, oder mir mein verstopftes Abflussrohr repariert.
Ich habe eine Form von Prosopagnosie (Gesichtsblindheit), durch die es mir schwer fällt, Gesichter zuzuordnen und sie mir zu merken. Es ist zum Glück nicht so schlimm, dass Gesichter für mich generell keine Struktur haben, oder ich gar mein eigenes Gesicht im Spiegel nicht erkenne, aber je "gewöhnlicher" ein Gesicht ist, je weniger herausstechende Merkmale es hat, desto schlechter erkenne ich es bei erneuter Begegnung wieder. Das passiert insbesonders in Situationen oder an Orten, wo ich dieser Person normalerweise nicht oder nur selten begegne (in den ersten zwei Jahren meiner Beziehung mit meinem Exmann bin ich ein paar Mal stracks an ihm vorbeigegangen, als er mir unerwartet auf der Straße entgegenkam, ich hab ihn schlichtweg nicht erkannt und war völlig überrascht, als er mich angesprochen hat) und es passiert auch, wenn sich Details rund um Gesicht/Kopf ändern. Da reicht schon ein plötzlich blutroter Lippenstift, der sonst nie getragen wird, oder Sonnenbräune.
Normalerweise schaffe ich es, mir ein Gesicht nach einiger Zeit immer besser zu merken, besonders wenn ich es oft sehe. Aber mein Hirn muss sich wirklich darauf trainieren. Deswegen passiert es mir oft, dass ich irgendwelche Gesichter, mit denen ich nichts zu tun habe, sofort wieder vergesse, bzw. sie im Kopf nicht rekonstruieren kann und auch nicht sagen kann, wie sie jetzt genau so insgesamt ausgesehen haben. Ich kann sagen, wie ich mich dabei gefühlt habe und welchen Eindruck ich gewonnen habe, als ich ihn direkt angesehen habe, ich bin ja nicht blind, aber sobald derjenige weg ist - schwupp, aus den Augen, aus dem Sinn, ich würde ihn vermutlich nur schwer wieder erkennen, wenn ich ihn kaum kenne. Sehr besondere Details kann ich mir merken und wahrscheinlich beiße ich mich deshalb so sehr an Details fest, anstatt ein "Gesamtes" wahrzunehmen. Bei meinem Exmann war es ein Muttermal unter dem linken Auge, das konnte ich mir merken. Das war es auch, wohin ich immer geguckt habe, als er mich auf der Straße angesprochen hat - schnell checken, ob er's auch wirklich ist, obwohl ich die Stimme ja kannte. Aber für das Gesicht habe ich so zwei Jahre gebraucht, bis es sich eingebrannt hatte.
Ich schenke Gesichtern viel Aufmerksamkeit, gerade weil ich sie mir so schwer merken kann.
Worauf ich hinaus will: Is' a bissle scheiße mit dem "optischen" Eindruck, wenn man Probleme hat, sich
direkt einzuprägen und im Kopf zu rekonstruieren. Wenn dann jemand sagt "Der/die sah toll aus, oder?", denke ich mir oft buchstäblich "Ich hab absolut keine Ahnung, aber ich mochte das Kleid."