Über Regeln
Soziale Regeln umgeben uns immer und überall. Sie sind so omnipräsent, dass wir die meisten überhaupt nicht mehr wahrnehmen und uns reflexhaft danach richten. Unser soziales Zusammenleben funktioniert nur, weil Gruppen von Menschen egal welcher Größe und welchen Zwecks - in überwiegender Mehrheit unbewusst - Richtlinien etablieren, an die sich dann gehalten wird. Wie automatisiert dieser Prozess ist, fällt ganz besonders dann auf, wenn - aus welchen Gründen auch immer - diese Strukturen missverstanden, hinterfragt oder angefochten werden und dann der große Streit losbricht.Über die Wichtigkeit gegenseitige Absichten, Erwartungen und Grenzen einer zwischenmenschlichen Beziehung zu reflektieren und klar zu kommunizieren habe ich ja schon an anderer Stelle gesprochen. Ein ganz eigenes Thema bildet allerdings der Weg die richtige Regel für den jeweiligen Zweck zu finden.
Dazu möchte ich auf ein oft übersehenes und unterschätztes Detail hinweisen: Der Unterschied zwischen Zweck und Ziel. Viel zu häufig wird beides gleichgesetzt, was zu unerwarteten Konflikten und unerwünschten Nebenwirkungen führen kann.
Zweck und Ziel
Als Beispiel sehen wir uns einfach das Thema Fremdgehen an. Was heißt Fremdgehen? Ist es der Bruch von Vertrauen? Ein Ausdruck mangelnder Loyalität? Oder einfach etwas, was eine beteiligte Seite als Bedrohung der Beziehung wahrnimmt? Jede einzelne dieser Antworten kann zutreffen und jede erfordert eine andere Herangehensweise, um ein sinnvolles Regelwerk zu erstellen.
Nehmen wir einfach mal an wir betrachten als Fremdgehen alles, was die Loyalität unseres Partners in Frage stellt. Der Zweck unserer Regel ist dies zu verhindern. Das können wir auf verschiedene Weise erreichen. Zum Beispiel komplette Überwachung mit ständiger Rückversicherung, welches Handeln in Ordnung ist oder Regeln für jede noch so kleine Möglichkeit, um die Enttäuschung „falschen“ Handelns zu vermeiden. Beide Optionen würden den Zweck erfüllen, indem sie uns die Sicherheit geben, dass unser Partner stets das „Richtige“ tut.
Haben wir allerdings eine Partnerschaft, welche auf gleicher Augenhöhe basiert, kann man sich sehr leicht vorstellen, dass sich die andere Seite bevormundet und unter ständigen Verdacht gestellt sieht. Sprich wir brauchen eine Struktur, welche zwar den Zweck den Eindruck von Illoyalität zu vermeiden erfüllt, aber gleichzeitig zum Ziel hat den Partner als selbstständiges Wesen zu akzeptieren, flexibel ist und ausreichend Bewegungsspielraum bei gleichzeitiger Handlungssicherheit bietet.
Ein Ziel ist damit etwas, welches unseren Zweck innerhalb gewisser Limitationen umzusetzen vermag.
Der Kern des Problems
Entscheidend bei der Aushandlung eines Regelwerkes ist, nicht nur reine Handlungen zu betrachten, sondern ganz besonders die damit verbundenen Empfindungen aller Seiten. Was für den einen großes Gewicht hat, mag für den anderen nur eine Nebensächlichkeit sein. Und so gilt es nicht nur die eigenen Emotionen einer Handlung in Betracht zu ziehen, sondern auch die des anderen und im Wechselspiel die mögliche Änderung der eigenen Sichtweise auf die Handlung des anderen. Wie verändert sich zum Beispiel meine Sichtweise auf einen Kuss, wenn zwar ich Küsse mit Liebe gleichsetze, aber mein Partner damit nur körperliche Anziehung ausdrückt. Letztendlich schaffen wir diese Strukturen ja nicht wegen der Handlungen selbst, sondern wegen der damit verbundenen Gefühle.
Prioritäten
Und so gilt es eben immer herauszufinden, warum eigentlich gewisse Aktionen kein Problem darstellen und andere wiederrum gefühlt die gesamte Beziehung in Frage stellen. Die oben erwähnten Regelautomatismen haben in Gruppen und zufälligen, oberflächlichen Begegnungen durchaus ihren Sinn. Schließlich verlangt die eben beschriebene Methode einen nicht unerheblichen gedanklichen und manchmal auch emotionalen Aufwand und eignet sich damit auch nur für Beziehungen, deren emotionale Bedeutung die Mühe wert macht.
Auch ich kann und will nicht jede Regel in jeder zwischenmenschlichen Beziehung einer solchen Analyse unterziehen. Auch wenn der damit verbundene Aufwand mit zunehmender Erfahrung und Selbsterkenntnis doch gewaltig abnimmt. Es hat sich für mich aber als sehr positiv herausgestellt, gerade die Regeln, welche die grundsätzliche Natur einer Bindung definieren, sehr intensiv zu prüfen, mit großem Bewusstsein zu etablieren und auch regelmäßig zu überprüfen. Und dies auch nur mit Menschen, welche einen besonderen Platz in meinem Leben einnehmen. Aber gerade diese Verbindungen haben dadurch für mich wesentlich an Intensität, Stabilität und Langlebigkeit hinzugewonnen.