Kapitel 6
„Mein Name ist J. Englisch ausgesprochen. „Jay“. Natürlich heiße ich nicht wirklich so. Aber wenn ich mich tatsächlich dieser speziellen Art von Missionen verschreiben will, dann kann ich mich ja wohl kaum mit meinem echten Namen vorstellen! Auch wenn ich weder beim Geheimdienst arbeite noch dubiose Kommentare im Internet poste: Ich brauche ein Pseudonym. Und dieses gefällt mir. „Jay“ klingt doch angemessen geheimnisvoll, oder nicht?
Außerdem ist es das englische Wort für Eichelhäher. Und das ist für mein Vorhaben ein ziemlich passender Namenspatron, finde ich: Clever, ein bisschen dreist - und vor allem ein begeisterter Sammler. Genau das werde ich auch sein. Nur wird meine Kollektion ganz sicher nicht aus Eicheln bestehen. Da gibt es andere Teile der menschlichen Anatomie, die mich deutlich mehr interessieren. Brüste zum Beispiel. Über deren Vorzüge und unterschiedlichen Ausprägungen könnte ich bei Bedarf einen mehrstündigen Vortrag halten. Aber darum geht es nicht.
Was ich sammeln werde, sind erotische Schätze. Goldklumpen und Edelsteine, die in den verschiedensten Farben der Wollust schimmern. Ich ahne schon, dass die sich einfach überall verbergen können: An einsamen Stränden vielleicht, in einem Theater nach dem letzten Vorhang oder in einem nächtlichen Museum voll schlummernder Urzeit-Tiere. Aber auch in einem ganz profanen Zugabteil oder im Supermarkt hinter dem Gewürzregal. Man muss nur genügend Fantasie aufbringen, um sie zu finden. Um den Moment zu erkennen, in dem sich Alltag in sexuelle Magie verwandeln kann.
Dann kann eine Geschichte entstehen, die für alle Beteiligten unvergesslich bleiben wird. Gesponnen aus Gier und Geilheit, aus der Sanftheit und Gewalt der Elemente. Geschrieben auf nackter Haut. Mit einem Gänsefederkiel oder mit einem zuckenden Schwanz. Mit Fingerspitzen in Samthandschuhen oder mit einer ledernen Peitsche. Ganz nach Belieben. So viele Möglichkeiten, es kann einem ganz schwindelig werden davon! Wobei das noch ziemlich untertrieben ist. Mir geht gerade der Arsch auf Grundeis, wenn ich ehrlich sein soll! Aber wahrscheinlich ist das kein Wunder, oder? Wenn man bedenkt, dass es mein erstes Mal ist...“
~
Anna hatte den Anfang der neuen Geschichte fasziniert verfolgt. Irgendetwas daran war anders als an den lustvollen Ausschweifungen von Isabella und ihrem Steuermann, die sie in der Lesung zuvor genossen hatte. Das war ihr sofort aufgefallen, obwohl sie den Unterschied nicht genau zu fassen bekam. Es war, als spüre sie eine andere Schwingung in den Zeilen. Eine Vibration, die sich auf die Stimme des Vorlesers übertrug. Und von dort auf ihre Trommelfelle. Die Worte kitzelten etwas in ihrem Kopf. Erzielten dort einen ähnlichen Effekt wie die zerplatzenden Mineralwasser-Perlen auf ihrer Zunge. Ein Prickeln, das nach mehr verlangte.
Umso irritierter war sie nun. Das erste Mal?! Anna hob eine Augenbraue. Mit dieser Wendung hatte sie nicht gerechnet. Sie passte einfach nicht zu dieser Vorlese-Stimme. Deren raspelndes Timbre von Salz und Sand hatte ihre Gedanken an erotischen Abgründen balancieren lassen. Auf eine angenehm aufregende Weise. Doch diese Fantasien drehten sich ganz sicher nicht darum, wie ein unerfahrener Neuling die Fallstricke des ersten Mals unfallfrei hinter sich bringen konnte! Sie fühlte sich ähnlich ernüchtert, als habe der geheimnisvolle Vorleser ihr ein Glas kaltes Wasser ins Dekolleté gekippt.
Beinahe war sie versucht zu protestieren. Dem Mann im Sessel gegenüber zu sagen, dass sie ihm zwar ausgesprochen gerne zuhörte, aber entschieden mehr Lust auf eine andere Geschichte hätte. Doch er schien schon zu wissen, was sie dachte. Ein feines Kräuseln seiner Mundwinkel verriet sein Amüsement. Die Bewegung seiner Augenbraue spiegelte die ihre. Doch er las einfach weiter.
~
„Dabei haben erste Male ja auch einen besonderen Zauber, oder? Gut, es gibt Ausnahmen, die man vielleicht lieber in einer abgelegenen Ecke seines Gedächtnisses vergräbt. Am besten unter dem Mantel des Vergessens und einer großen Ladung Felsbrocken. Fragen Sie nicht, wie meine erste selbstgebackene Nusstorte ausgesehen hat! Oder wie ich mich angestellt habe, als ich zum ersten Mal am Steuer eines Autos saß. Aber in diesem Fall…? Nein, eigentlich bin ich guter Dinge. Nervös, aber optimistisch. Ich werde meinen ersten Auftrag schon nicht verkacken!
Es ist ja nicht so, dass es mir in Sachen sexueller Ausschweifungen an Erfahrung fehlte. Nur habe ich dabei eben kein besonderes Ziel verfolgt. Möglichst viel Genuss für alle Beteiligten fand ich als Agenda bisher völlig ausreichend. Das ist jetzt natürlich anders. Aber der Plan steht, es ist alles vorbereitet. Und ich glaube nicht, dass mein erstes Opfer Verdacht geschöpft hat. Marie scheint sich in meinem Spinnennetz verfangen zu haben, ohne es zu merken.
Die Nachricht, die sie mir vor einer halben Stunde geschickt hat, klingt jedenfalls völlig entspannt. Sogar der Berliner Nahverkehr scheint heute ausnahmsweise mitzuspielen. Pünktlich wird sie den Treffpunkt erreichen, den ich vorgeschlagen habe: Den Anleger der Fähre zur Pfaueninsel. Sie freut sich offenbar auf dieses Schmuckstück in der Havel, das sie als Neu-Berlinerin noch nicht kennt. Was genau sie dort erwartet, ahnt sie natürlich nicht. Ich habe mir schließlich alle Mühe gegeben, diesen Ausflug in einem interessanten, aber völlig harmlosen Licht erscheinen zu lassen.“
~
Hm hmmm… wieder nahm die Geschichte eine neue Wendung, die Anna noch nicht so recht einordnen konnte. Das „erste Mal“ von Mr. Eichelhäher schien jedenfalls von anderer und durchaus spannenderer Qualität zu sein, als sie zunächst angenommen hatte. Was das wohl für ein geheimnisvoller Auftrag war, für den er die Neu-Berlinerin ins Visier genommen hatte? War er erotischer Natur oder eher krimineller? Musste man sich um das angepeilte Opfer Sorgen machen? Wohlig streckte Anna die Beine aus, lehnte sich zurück und trank noch einen Schluck. Das Prickeln auf ihrer Zunge fühlte sich stärker an als zuvor. Und schmeckte nach dem Reiz der Gefahr.
~
„Ich hatte mir natürlich Gedanken darüber gemacht, wie ich sie überhaupt ansprechen sollte, dort in der Bar. Irgendein plumper Anmachspruch kam ganz sicher nicht infrage. Darauf würde sie wahrscheinlich nur mit einem Augenrollen reagieren. Aber zum Glück hatte mein Auftraggeber mich ja mit einer Reihe von Informationen über meine Zielperson versorgt. Ein richtiges Dossier war da zusammengekommen. Und darin fand sich auch der entscheidende Hinweis, dass Marie ein Faible für Gruselgeschichten hatte. Na, darauf ließ sich doch aufbauen!
Die Masche, die ich mir zurechtgelegt hatte, funktionierte dann auch erstaunlich gut. Ich betrat die Bar, setzte mich und lamentierte beim Bestellen meines Getränks ein bisschen herum. Mit einem halbwegs überzeugenden Zähneknirschen erzählte ich der Bedienung, dass ich einen beschissenen Tag gehabt hätte. Weil nämlich irgendwelche Kunden eine Gruseltour durch Berlin bei mir gebucht hätten und dann einfach nicht aufgetaucht seien. Was bildeten sich solche Leute eigentlich ein?
Natürlich sprach ich nicht übertrieben laut. Aber doch so, dass mein angepeiltes Opfer die Worte hören musste. Und so kamen wir ins Gespräch, Marie und ich. Über meinen angeblichen Job als Fremdenführer, der sich auf die Schauplätze von geheimnisvollen und unheimlichen Berliner Begebenheiten spezialisiert hat. Über Verbrecher und Gespenster, Magier und Mysterien aus etlichen Jahrhunderten. Und natürlich über die Pfaueninsel, die mehr dunkle Geheimnisse birgt, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Ich habe mir viel Mühe gegeben, den Ort so verwunschen darzustellen, wie er tatsächlich ist. Und ich habe ihr die Geschichte des Alchemisten Johann Kunckel erzählt, der dort im 17 Jahrhundert ein geheimes Labor unterhielt. Im Auftrag des Kurfürsten von Brandenburg hat er darin kostbares Rubinglas hergestellt. Und vielleicht nicht nur das? Da damals niemand die Insel betreten durfte, schossen die Spekulationen in Berlin wie in Potsdam ins Kraut. Zumal immer wieder stinkende, schwarze Qualmwolken von dem Eiland Richtung Ufer wehten. War dort ein Magier am Werk, der mit teuflischer Unterstützung Gold fabrizierte? Oder ein Hexenmeister, der unaussprechliche Experimente durchführte? Düstere Mächte wähnte man auf der Pfaueninsel am Werk. Und bis heute, so erzählt man sich, soll dort in manchen Nächten eine schwarze Gestalt mit glühenden Augen umgehen…“
~
Na, Donnerwetter! Das war ja mal eine Story, mit der man eine Frau beeindrucken konnte! Anna grinste in sich hinein. Kein Wunder, wenn Marie der Einladung des angeblichen Fremdenführers nicht hatte widerstehen können. Ihr selbst wäre es vermutlich nicht anders gegangen. Reagierte nicht auch sie gerade ungewöhnlich stark auf einen Geschichten-Akrobaten mit faszinierender Stimme? Auf einen Mann, der ihr auf einer ganz profanen Ostsee-Fähre das Blaue vom Himmel und das Weiße von den Wellenkämmen erzählte?
Gut, bisher hatte er nicht versucht, sie an geheimnisumwitterte Orte zu locken. Aber würde es dabei bleiben? Anna hatte noch immer keine Ahnung, wohin diese ungewöhnliche Begegnung führen würde. Und wenn man es recht bedachte, dann gab es noch weitere Parallelen zwischen Realität und Geschichte. Sowohl ihr verführerischer Vorleser als auch der Protagonist seiner Erzählung hatten ihre weibliche Beute in einer Bar umgarnt. War das ein Zufall? Anna beschloss, auf der Hut zu sein. Doch einfach würde das nicht werden. Denn der Fluss der Geschichte zog sie unablässig weiter. Zu einem unbekannten Ziel.
~
„In dem Moment wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Marie war sichtlich angetan von meinen Fabulier-Künsten. Obwohl ich die historischen Fakten über den Alchemisten nur geringfügig ausgeschmückt hatte, war ihr Interesse geweckt. Und so lag es natürlich nahe, sich an der Fähre zur Pfaueninsel zu verabreden, um den Schauplatz der Legenden zusammen in Augenschein zu nehmen.
Sie hat den Köder geschluckt. Nun brauche ich nur noch die Angel einzuziehen. Ich lächele mein sympathischstes Lächeln. Oder was ich dafür halte. Denn da kommt sie. Mit raschen Schritten eilt Marie auf mich zu. Ihr Herbstlaub-roter Mantel und die kniehohen Stiefel stehen ihr gut. Und sie beruhigen mich auch ein wenig. Die Frau ist für die Kühle eines Oktobertages gerüstet. Es ist wohl nicht damit zu rechnen, dass sie unseren Ausflug vorzeitig abbrechen wird. Das wäre ja auch zu dumm: All fein gesponnenen Pläne, die Vorbereitungen, und mein sorgfältig gepackter Rucksack – und dann ist alles für die Katz, weil mein Opfer friert und nach Hause will… Das darf ich mir gar nicht vorstellen!
Im Moment gibt es allerdings auch nicht den geringsten Grund dafür. Schon während der kurzen Überfahrt zur Insel ist Marie bestens gelaunt, voller Neugier und Vorfreude. Sie scheint sich wohl zu fühlen in meiner Gegenwart. Und ich muss zugeben, dass es mir genauso geht. Wir plaudern und lachen, während wir an Land gehen und die ersten Minuten über die Insel wandern. Dann fängt uns die Atmosphäre ein.
Die Route, die ich ausgewählt habe, führt nicht zum etwas kitschig wirkenden Schloss, sondern durch die Wiesen und Wälder der Insel. Vorbei an alten Bäumen, von denen die Blätter rieseln. Das Laub tanzt im Wind und flüstert von Herbstlust. Gänse ziehen in langgestreckten Formationen über unsere Köpfe hinweg und schnattern von fernen Abenteuern. Am Ufer wispern die Schilfhalme, während Wasserzungen über den Sand lecken.
Ich habe auf die Magie der Landschaft gesetzt, und sie beginnt zu wirken. Ich sehe es in Maries Augen. Es wird Zeit, die nächsten Fäden zu spinnen. Die dunklen, erotischen. Ich muss damit anfangen, solange die Oktobersonne noch scheint und alles ganz harmlos aussieht. Schon bald werden die Nebel aufziehen und die Gespenster der Fantasie. Und erst dann wird ihr klar werden, dass wir die letzte Fähre für heute verpasst haben.“
… Fortsetzung folgt …
© Kea Ritter, November 2022