Tagediebe
Für Bernd @****orn , meinen Schreibkomplizen, der nun seit einem Jahr keine Geschichten mehr lesen kann. Obwohl: Wer weiß das schon...Kapitel 1
Der Donner krachte, als habe Thor seinen Hammer mitten auf ihr Autodach geschmettert. Oder welche alte Gottheit auch immer an der Ostsee für Gewitter zuständig sein mochte. Anna rollte mit den Augen. Ein Unwetter hatte ihr gerade noch gefehlt, um diesen verkorksten Tag zu krönen! Dabei sollte Urlaub ja eigentlich schon bei der Anreise beginnen, oder? Ja, von wegen!
Erst hatte sie sich bei brütender Hitze durch einen Stau nach dem anderen gequält. Dabei hatte es nicht geholfen, dass einige Zeitgenossen ihr Gehirn bei solchen Temperaturen auf Sparflamme zu schalten schienen. Und jetzt, da sie den Hafen von Rostock endlich erreicht hatte, wusste sie nicht weiter.
War sie an diesen Containern nicht schon mal vorbeigekommen? Oder bildete sie sich das ein? Das verdammte Navi schien sie irgendwie in die Irre geführt zu haben. Stimmte die Adresse nicht?
„Sie haben Ihr Ziel erreicht!“, verkündete die künstliche Frauenstimme und schien dabei vor Hohn zu triefen.
„Nein, habe ich nicht, Du elendes Scheißding!“ Anna schlug entnervt mit der Hand aufs Lenkrad, als könne das irgendetwas bewirken. Tat es natürlich nicht. Der Fähranleger blieb verschollen.
Das durfte doch alles nicht wahr sein! Wer zum Teufel verfuhr sich auf einem Hafengelände, auf dem jedes Jahr unzählige Skandinavien-Touristen völlig problemlos den Weg zu ihrer Fähre fanden? Irgendwo musste sie falsch abgebogen sein. Und nirgends war jemand zu sehen, der sie wieder auf die richtige Spur bringen konnte. Kein Hafenarbeiter, kein Reisender. Nicht einmal ein Hinweisschild. Wobei sie nicht sicher war, ob sie das bei dem Wetter überhaupt gesehen hätte.
Der Himmel schien alle Register gezogen zu haben, um ein möglichst dramatisches Schauspiel zu bieten. Erst hatte er sich damit begnügt, die Kulisse zu malen: Eine beinahe unnatürlich wirkende Komposition aus Pechschwarz, Sturmgrau und giftigem Schwefelgelb. Verziert mit Wolkentürmen. Dann hatte das Wetterleuchten begonnen, begleitet von einem bedrohlichen Grollen und erstem Tropfengeprassel. Und jetzt machte das Gewitter ernst.
Wütende Sturmböen packten die Regenschleier und rissen sie waagrecht durch die Luft. Holten einen Moment Atem, so dass man wieder ein paar Meter weit sehen konnte. Und bewiesen dann erneut ihre tückische Unberechenbarkeit: Sobald man sich sicher genug zum Weiterfahren fühlte, packten sie ihre Wasserkanonen wieder aus. Als wollten sie sich über die ebenso hektischen wie vergeblichen Bewegungen der Scheibenwischer lustig machen.
Der Hafen hatte sich in ein wirbelndes Chaos aus Wasser, Dunst und Finsternis verwandelt. In eine Welt, in der Kräne, Container und Gebäude zu mysteriösen Fabelwesen mutierten. Und in der man nie so ganz genau wusste, ob man noch mit beiden Füßen in der Realität stand…
Abrupt trat Anna auf die Bremse. War da eben wirklich ein Straßenschild gewesen? Und hatte die Inschrift so gelautet, wie ihr flüchtiger Blick es ihr weismachen wollte? Sie setzte den Wagen ein Stück zurück. Tatsächlich, da stand es weiß auf blau: „Gödeke-Michels-Straße“.
Anna stellte für einen Moment den Motor ab und atmete tief durch. Warum sie sich plötzlich so viel besser fühlte, hätte sie gar nicht so recht erklären können. An irgendwelche ominösen Winke des Schicksals hatte sie nie geglaubt. Aber manchmal hatte sie das Gefühl, als schaue ihr ein Schriftsteller über die Schulter. Einer mit Erfindergeist, der immer mal wieder ein bisschen Glitzerstaub in ihren Alltag streute. Eigentlich unbedeutende Kleinigkeiten, aus denen eine Messerspitze Magie zu schimmern schien. Wenn man denn aufmerksam genug war, um sie zu bemerken. So, wie dieses Schild jetzt. Sie musste lächeln, als habe der Schriftzug ihr verschwörerisch zugezwinkert. Gödeke Michels! Ausgerechnet…
Der Pirat hatte ihre Gedanken in letzter Zeit gehörig beschäftigt. Seit dem Moment, in dem sie sich ihre Urlaubslektüre bestellt hatte. Wenn sie unterwegs war, las sie gern Geschichten, die in der jeweiligen Region spielten. So konnte sie ihrer Fantasie besonders gut die Zügel schießen lassen. Sie sah ganz normale Bäume und Häuser, Berge und Küsten, begegnete Menschen und Tieren – und ließ sich von ihnen gefangen nehmen: Mühelos sprangen ihre Gedanken von der Realität in die Welt der Buchseiten. Und wieder zurück.
Für ihre aktuelle Reise hatte sie also nach Lesestoff über die schwedische Insel Gotland gesucht, die sie hoffentlich übermorgen erreichen würde. Und so war sie beim Stöbern auf eine Romanreihe mit dem rätselhaften Titel „622“ gestoßen. Der Klappentext hatte ihr gefallen. Er versprach kriminelle und erotische Verwicklungen im modernen Hamburg, die auf geheimnisvolle Weise mit dem ebenso dunklen wie bunten Mittelalter verwoben waren. Genauer gesagt: Mit den Umtrieben des legendären Freibeuters Gödeke Michels und seiner Crew, die auf Gotland ihren Stützpunkt gehabt hatten.
Natürlich hatte sie es sich nicht verkneifen können, schon zuhause ein paar Kapitel zu lesen. Und war in einer Welt versunken, in der die Begierden die Vernunft kaperten. In der die Lust schäumte und übermütig lachte. Und die Bedenken über die Planke gingen. Sie hatte sich gefühlt, als sei sie in einen Strudel geraten – wild und sanft, gefährlich und sinnlich wie das Meer. Und es war nicht zuletzt Gödeke Michels gewesen, der diesen Strudel unablässig angetrieben hatte.
Vom ersten Moment an hatte sie den Reiz verstanden, den das Autorenduo dem Hauptmann der Likedeeler angedichtet hatte. Allein die Vorstellung, einen jener schweren Silberringe zu tragen, die das geheime Erkennungszeichen der Frauen in Gödekes Lustzirkel waren…
Zu schade, dass der Kerl seit mehr als 600 Jahren tot war! Und nur eine Ausgeburt literarischer Fantasie.
Anna grinste selbstironisch, während sie ihr Auto wieder startete. Der echte, historisch verbürgte Gödeke mochte ungefähr so viel erotische Ausstrahlung besessen haben wie eine halbe Portion Labskaus. Ohne Spiegelei. Aber wen störte das schon? Die Roman-Version besser kennenzulernen, würde jedenfalls ein echtes Urlaubsvergnügen werden. Und wenn man nun schon eine Straße nach dem geschätzten Herrn Michels benannt hatte, dann würde sie sich seiner Führung auch anvertrauen! Auch wenn das angesichts seiner doch etwas zwielichtigen Karriere nicht unbedingt die schlauste Idee zu sein schien.
Kurzerhand wendete sie das Auto und folgte der Richtung, in die das Straßenschild zeigte. Der Schriftsteller hinter ihrer Schulter schien ermutigend zu nicken. Doch sein Lächeln war voller Abgründe.
… Fortsetzung folgt…
© Kea Ritter, Juli 2022