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A Coruna / Puerto de Santa Cruz
Eine laute Autohupe riss sie aus wirren Träumen und es dauerte eine Weile, bis sie wusste, wo sie war. Der Platz im Bett neben ihr war kalt und leer. Marita tastete nach ihrer Armbanduhr.
Schon halb elf durch. Sie schwang müde die Beine aus dem Bett und setzte sich auf den Rand.
Wo Manolo wohl war? Egal. Seit ihrer Nummer in dem Pinienhain und seiner Indiskretion Anxo gegenüber stand etwas zwischen ihnen und sie war nicht gewillt, diese Kluft zu überspringen.
Morgen Abend ging ihr Flug zurück nach Hamburg. Sie hätten noch einen schönen Tag zusammen verbringen können. Und eine weitere Nacht.
Marita ging im Bad auf die Toilette und nahm eine Dusche. Obwohl sie sich nach ihrer Rückkehr aus Vigo direkt minutenlang unter die Dusche gestellt und zweimal abgeseift hatte, glaubte sie noch immer, der Gestank des Todes würde an ihr haften.
Und schon kehrten die Bilder zurück. Palettenweise wurden die Haikadaver aus dem Bauch der beiden Schiffe an Deck gehievt und in die große Halle gekarrt.
Stumpfe, dunkle Augen, die anklagend ins Leere starrten. Blutende Mäuler, halb geöffnet, als würden sie noch einen letzten, verzweifelten Atemzug nehmen wollen.
Trotz des heißen Wassers, das über ihren Körper strömte, schauderte sie bei der Erinnerung an all die toten Fische, die sie gesehen hatte. Manche nicht länger als einen guten Meter. Jungfische, die sich nun niemals würden paaren können, um ihre Art zu erhalten. Es war entsetzlich gewesen, diesen Raubbau an der Natur so hautnah zu erleben. Wie achtlos die Fischer mit ihren Stiefeln auf den schlanken Leibern herumliefen. Immer wieder ihre großen, gebogenen Haken in ihre Köpfe schlugen, um sie von einer Palette auf eine andere zu ziehen.
Als sie dann auch noch sah, wie einer der Arbeiter seine Zigarette im Auge eines der Haie ausdrückte, war das Maß voll und sie war aus der Halle gestürmt.
Plötzlich öffnete sich die Badezimmertür und Manolo kam herein.
Marita bedeckte reflexartig ihre Brüste und drehte sich um.
„Ach, hier bist du“, sagte Manolo.
„Kannst du nicht anklopfen?“, fuhr Marita ihn an.
„Entschuldige, aber ich wohne hier.“
Er warf einen bunten Blumenstrauß, den Marita gar nicht bemerkt hatte, ins Waschbecken, drehte sich um und ging wieder hinaus.
Marita schämte sich, dass sie ihn so angepfiffen hatte. Die ganze Situation überforderte sie. Sie würde sich anziehen und abfahren, entschied sie.
Um die Begegnung mit ihm hinauszuzögern, trödelte sie beim Abtrocknen herum. In ihren Kopf herrschte Aufruhr. Fahr ich, oder fahr ich nicht? Sie konnte sich nicht wirklich entscheiden.
Schließlich trat sie ins Schlafzimmer. Aus der Küche strömte verführerisch der Duft von frischem Kaffee und sie hörte Manolo darin herumhantieren.
Schnell schlüpfte sie in frische Unterwäsche, stieg in ihre Chinos und zog einen leichten Strickpullover an. Sie wollte gerade zu ihm hinübergehen, als ihr die Blumen wieder einfielen. Schnell ging sie zurück ins Bad, um den Strauß zu holen. Es war ein hübsches Arrangement aus lokalen Frühlingsblumen. Marita schämte sich noch mehr.
Den Strauß hinter ihrem Rücken verborgen, ging sie hinüber in die Küche.
Der Tisch war gedeckt. Sie sah Bocadillos, Churros und eine Auswahl an frischem Obst. Alles war sehr liebevoll angerichtet.
„Es tut mir leid, dass ich dich so angeblafft habe“, begann sie. „Ich glaube, es war alles etwas zu viel für mich.“
„Schon gut“, war alles, was Manolo, ohne sich umzudrehen, erwiderte.
„Die sind ganz zauberhaft“, sagte Marita und holte die Blumen hervor. „Hast du eine Vase?“
„Ja, sicher, dort unten.“ Er zeigte auf eine Tür in einem Schränkchen.
Marita nahm eine schlichte weiße Porzellanvase heraus und ging zum Waschbecken, um sie zu füllen. Dabei standen sie so dicht nebeneinander, dass sie sich an den Schultern berührten.
Sein herber, maskuliner Geruch entfachte einen Anflug von Erregung in ihr. Sie drapierte die Blumen in der Vase und stellte sie auf den gedeckten Tisch.
„Das sieht alles total lecker aus. Vielen Dank.“
„Lass es dir schmecken.“
„Es langt!“, rief Marita wütend. „Ich habe mich entschuldigt. Was soll ich noch tun?“
Manolo drehte sich langsam zu ihr um und sah sie schweigend und durchdringend an.
„Du könntest dich mal entscheiden, was du eigentlich willst.“
Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Was meinst du?“, fragte sie, um etwas Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.
„Du weißt verdammt genau, was ich meine“, gab er eisig zurück. „Du hältst mich für einen ungebildeten, dummen Fischer. Ist es nicht so? Du benutzt mich und meine Kontakte, weil es dir bei deiner Arbeit hilft. Und du lässt dich von mir ficken, wenn dir danach ist. Ja, ich bin nur ein einfacher Fischer, aber ich bin nicht dumm.“
Marita war sprachlos angesichts dieser deutlichen, aber nicht ganz unbegründeten Anklage.
„Du hast recht. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich hatte mich so auf unser Wiedersehen gefreut. Aber … ach ich weiß auch nicht.“
Tränen traten ihr in die Augen und sie wandte sich ab. Alles in ihr rief: geh – sofort.
Da spürte sie seine warmen Hände auf ihren Armen – so unendlich sanft. Langsam drehte er sie um. Ebenso sanft waren seine Küsse, die jetzt ihr Gesicht bedeckten. Ihre Tränen versiegten und sie schmiegte sich in seine starken Arme. Legte den Kopf an seine breite Brust.
„Verzeih mir – bitte“, bat sie ihn, die Stimme brüchig wie tausend Jahre altes Pergament.
„Tue ich ja. Komm, lass uns was essen.“
Sie löste sich langsam von ihm und setzte sich an den Tisch.
„Probier die
Bocadillos, die dort sind mit Chorizo und die hier mit Manchego“, empfahl Manolo, als wäre nichts gewesen und Marita war ihm dafür unendlich dankbar.
Sie nahm sich eines mit der würzigen Paprikawurst gefüllten Brote und schon nach dem ersten Bissen fühlte sie sich gleich viel besser.
Eine halbe Stunde später hatte sich das Angebot deutlich gelichtet.
„Rauchst du hier drinnen?“, fragte Marita vorsichtig.
„Manchmal. Warte, lass mich erst das Fenster öffnen.“
Manolo räumte ein paar Dinge zur Seite, die auf der Fensterbank standen und schon strömte eine frische Brise in die Küche. Sie zündeten sich beide eine Zigarette an und rauchten schweigend.
Manolo blickte auf die klobige Taucheruhr an seinem Handgelenk.
„Gehst du heute auf die Klippen?“
Er sah sie an und schien zu überlegen.
„Kommt darauf an. Willst du noch bleiben?“
Jetzt war es Marita, die zögerte. Sie hatte noch immer mit ihren widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen.
„Nein. Ich glaube, es ist besser, ich fahre zurück in mein Hotel.“
Manolo nickte nur und sah aufs Meer hinaus.
„Mein Flug geht aber erst morgen. Wir könnten uns heute Abend bei Ernesto zum Essen treffen.“
„Wenn du das wirklich möchtest.“
„Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht wollen würde. Ich brauche jetzt aber erstmal ein paar Stunden für mich. Okay?“
„Okay. So gegen sieben?“, schlug er vor. „Ich muss dann jetzt auch los, damit ich nicht zu spät komme.“
„Perfekt. Ich wünsche dir eine fette Beute“, sagte Marita, froh über die Entwicklung. Sie konnte immer noch umbuchen und heute fliegen, sollte sie sich dazu entscheiden. Auch wenn sie schon jetzt wusste, sie würde es nicht tun.
Kurz darauf küssten sie sich zum Abschied.
„Zieh einfach die Tür hinter dir zu, wenn du gehst“, sagte Manolo, als er die Treppe hinunterging. Dann war er verschwunden. Marita hörte, wie er den Wagen startete und davonbrauste.
Sie setzte sich wieder an den Kaffeetisch, schenkte sich den inzwischen etwas abgestandenen Rest Kaffee ein und nahm sich noch eine Shepheard.
Gedankenverloren genoss sie den würzigen Geschmack und ließ den Rauch durch ihre Nasenlöcher entweichen.
Nach der Zigarette räumte sie den Tisch ab, stellte die wenigen Reste in den kleinen Kühlschrank und wusch das Geschirr ab. Dann packte sie ihre paar Sachen zusammen, schloss die Fenster und machte sich auf den Weg nach A Coruna.
Es war schon fast sechs, als Marita aus ihrer Siesta erwachte. Dafür fühlte sie sich fit und erholt. Sie stellte sich kurz unter die Dusche und machte sich dann für den kommenden Abend zurecht. Sie entschied sich für einen knöchellangen, bestickten Rock und eine leichte kurzärmelige Bluse.
Kurz vor sieben bog sie auf den Parkplatz des Trisquel ein und stellte überrascht fest, dass alle Plätze bereits belegt waren, was sie sehr verwunderte. Sie wendete und fuhr ein ganzes Stück die Straße hinauf, bis sie endlich einen freien Platz fand.
Als sie die Terrasse vor dem Restaurant betrat, staunte sie nicht schlecht.
Nicht nur, dass sich dort an die fünfzig Personen jeden Alters tummelten, es war auch alles sehr festlich geschmückt. Über den hübsch dekorierten Tischen baumelten bunte Lampions und Girlanden. Da war sogar eine kleine Band, die gerade dabei war, sich für ihren Auftritt vorzubereiten.
Etwas unsicher zwängte Marita sich durch die dichtgedrängt stehenden fremden Menschen.
Zwei kleine Jungs, die wohl Fangen spielten, rannten ihr in die Beine und flitzten ohne eine Entschuldigung weiter.
„Marita!“, hörte sie jemanden rufen.
Manolo kam mit zwei Flaschen Estrella winkend auf sie zu.
„Was ist denn hier los?“, fragte Marita ihn, als er sie erreicht hatte.
„Hochzeit. Ich wusste auch nichts davon. Wir können bleiben oder woanders hingehen.“
Die Aussicht auf einen lustigen Abend mit Musik schien ihr sehr verlockend, und so zögerte sie keinen Moment, Manolo zu versichern, dass sie sogar sehr gerne hier bleiben würde.
„Wer sind denn die Glücklichen?“, wollte sie wissen und deutete mit dem Kinn auf das junge Brautpaar, dass am Eingang zum Restaurant stand, wo sie gemeinsam die mitgebrachten Geschenke in Empfang nahmen.
„Der aufgeregte, junge Mann ist Fernando, ein Freund von Ernestos ältestem Sohn Raoul. Seine hübsche, zukünftige Frau heißt Violeta. Sie haben sich, so sagt Ernesto, in Madrid an der Uni kennengelernt.“
„Sollten wir ihnen nicht auch etwas schenken?“, fragte Marita.
„Du hast recht. Ich besorge uns schnell einen Umschlag. Ein paar Euros können sie sicher am besten gebrauchen. Komm mit rein und sag Ernesto Hallo.“