"Loch ist Loch"
Die Räder der S-Bahn ratterten über die nassen Gleise in Richtung Innenstadt. An diesem regnerischen Samstagvormittag beförderte sie nur wenige Fahrgäste. Pascal saß am Fensterplatz einer Sitzbank, deren bideres Muster von Abrieb und kleinen Rissen durchbrochen wurde. Sein Kopf schwankte kurz hin und her, als der Waggon von einer Weiche ins neue Gleis gezwungen wurde. Er schaute aus dem Fenster und beobachtete die vorbeiziehenden Parzellen. Ein dicker Wassertropfen kreuzte sein Blickfeld und hinterließ eine gerade Spur. In der Scheibe spiegelte sich sein Fanschal, der heute sogar einen praktischen Nutzen hatte. Sein Smartphone vibrierte und er holte es aus der linken Hosentasche hervor. Es war eine neue Nachricht in der Gruppe 'Die Graupenfans': "Ich schaffe es heute leider nicht rechtzeitig. Komme direkt zum Stadion." Pascal seufzte, denn er hatte sich heute Morgen extra beeilt. Deshalb bestand sein Tag bisher nur aus einer Dusche und einem bitteren Kaffee. Er wollte ausnahmsweise mal nicht als Letzter eintrudeln und nun sagte einer nach dem anderen ab. Sie waren eine lose Gruppe von Gleichgesinnten, die sich vor jedem Heimspiel im "goldenen Truthahn" zur gemeinsamen Einstimmung trafen. Er war es zwar gewohnt, dass sich ihre Zusammensetzung von Spieltag zu Spieltag änderte, da nicht immer alle konnten oder wollten. Aber eine derart geringe Beteiligung wie heute hatte er in den letzten fünf Jahren noch nicht erlebt. Er dachte nach. Grippewelle, das schlechte Wetter und natürlich auch die zuletzt schwachen Leistungen ihres Vereins waren sicherlich keine begünstigenden Faktoren für ein Erscheinen weit vor dem Anpfiff. Doch was sollte er nun anderes tun, als weiterzufahren. Schließlich hatte er schon die halbe Strecke hinter sich und es bestand noch Hoffnung, dass ein paar Jungs oder Mädels aufschlugen, die bisher nicht der Chat-Gruppe beigetreten waren. Die S-Bahn setzte unterdessen unbeirrt ihren Weg fort und er ahnte in diesem Moment noch nicht, wie sehr sich diese Entscheidung für ihn auszahlen sollte.Er zog den Reißverschluss seines langen schwarzen Mantels bis zum Anschlag nach oben und warf dem tiefgrauen Himmel dabei einen missbilligenden Blick zu. Dadurch übersah er eine Pfütze, die sich mit einem Schwall kalten Wassers für seinen rechten Turnschuh bedankte. "Verdammt!", rief er aus. Auf dem Kopfsteinpflaster hinterließ er nun feuchte Sohlenabdrücke, während er über die Straße hastete. Am Ende der nächsten Seitenstraße erkannte er durch den Regen bereits das vertraute Schild, das seitlich von der Fassade abstand und einen großen Truthahn in stolzer Pose darstellte. "Hässlicher Truthahn wäre wohl ein treffenderer Name gewesen", dachte er aufgrund seiner schlechten Laune. Schnellen Schrittes rettete er sich unter das kleine Vordach, das über der Eingangstür in den Regen ragte. "Wegen Krankheit geschlossen!", revanchierte sich der Truthahn sogleich für die vorausgegangene Beleidigung und blickte mit einem hämischen Grinsen vom Schild auf ihn herab. Von innen war die Hiobsbotschaft in Form eines handgeschriebenen DIN-A4-Blattes mit zwei Streifen Tesafilm an die dicke Glasscheibe in der Kneipentür geklebt worden. Er fauchte den wohlgenährten Vogel an: "Das darf doch nicht wahr sein! Was ist das für eine ..."
"Ey, mach mal Platz!", unterbrach eine junge Frau sein Gefluche, die sich ebenfalls vor dem Regen schützen wollte. Sie drängelte Pascal ein bisschen zur Seite und musterte aus kurzer Entfernung sein Gesicht. "Du bist doch Pascal. Ich habe dich und deine Freunde hier schon ein paar Mal gesehen", stellte sie fest.
"Äh, ja das stimmt", stammelte er und versuchte sich an sie zu erinnern, "und du bist doch Mar..., Marie!"
Ihre vollen Lippen formten ein kleines Lächeln: "Maria, ich heiße Maria."
Er konnte seinen Blick nicht von ihren braunen Augen lösen, neben denen schwarze, nasse Haarsträhnen von ihren Schläfen herabhingen. Die kleinen Wassertropfen, die sich oben an ihrer gelben Wollmütze festhielten, verfolgten die Begegnung als stumme Zuschauer.
"Wollen wir nicht reingehen?", fragte sie, nachdem sie seinen Blick bewusst für einen Moment erwidert hatte.
"Der dämliche Vogel lässt uns nicht rein", formulierte er etwas unbeholfen, "Also ich meine, die Kneipe ist zu. Wegen Krankheit geschlossen." Er deutete mit dem Zeigefinger auf die alte, dunkelbraune Holztür.
"Oh, so ein Mist", entgegnete sie, "dann lass uns doch woanders hingehen. Bis zum Spiel ist ja noch viel Zeit." Schnell fügte sie hinzu: "Du kannst deinen Freunden ja schreiben, wohin sie nachkommen sollen."
Ohne weitere Erklärung sagte er mit einer abwinkenden Handbewegung: "Ach, die kommen heute alle nicht."
Er wollte eine alternative Gaststätte vorschlagen, aber ihm fiel auf, dass er sich eigentlich immer nur im 'Goldenen Truthahn' traf. Vor und nach Heimspielen, zum Schauen von Auswärtsspielen und auch dann, wenn er einfach nur so ausging. Außerdem war es noch früh und bei diesem Regenwetter waren kaum Menschen unterwegs. Es war sicherlich nicht einfach, eine geöffnete Kneipe zu finden. Sein Grübeln dauerte ihr zu lange, sodass sie ihn beherzt am Handgelenk packte und hinaus in den Regen zog. Mit ausgestrecktem roten Hals beobachtete der aufgemalte Truthahn zufrieden, wie die beiden hinter der nächsten Straßenecke verschwanden.
(Fortsetzung folgt.)