Zitat von *****n27:
„ So wie ich es verstehe geht es hier aber nicht darum, dass Leute das Programm nicht perfekt durchexerzieren, sondern erst gar nicht anrufen. Ist das richtig?
Habt ihr Erfahrungswerte oder Einblicke, was dazu führt, wo die Hürden liegen?
Habt ihr Erfahrungswerte oder Einblicke, was dazu führt, wo die Hürden liegen?
Ja, das ist richtig. Grundsätzlich geht es immer mehr in die Richtung Wählen und Warten!
Wie W-Fragen gibt es noch, aber sie kann sich ohnehin kaum jemand merken. Macht allerdings einen riesen Spaß im Plenum diese abzufragen, mitzuzählen und dann ggf. noch eigene hinzuzufügen und auf teilweise 8 Fragen und mehr zu kommen.
Hemmschwellen sind zum einen vermutlich die Angst, dass etwas falsch gemacht wird. Und zum anderen häufig die Angst vor den vermeintlichen Kosten, die entstehen würden, wenn "der Krankenwagen" kommt und es dann doch nicht "so schlimm" ist. (Nein, passiert nicht, wenn man nicht spaßeshalber anruft! Aber da sind wir dann auch bei einer Straftat.)
Der Grund, wieso diese W-Fragen wegfallen bzw. immer weiter in den Hintergrund rücken, ist, dass die Leitstelle ebenfalls Computer hat und Notrufe nach einem festen Schema und computergestützt abgearbeitet werden. Die Disponent*innen müssen also dem System die Fragen beantworten, um weiter zu kommen.
Und zumeist ist eben die Angabe eines Einsatzortes die erste Abfrage. Auch weil man jeder Zeit davon ausgehen muss, dass der Anruf abbrechen kann. Wenn man also die Adresse hat, kann man Kräfte auch alarmieren, wenn unmittelbar danach die Verbindung wieder abbrechen sollte.
Daher ist die Eröffnung häufig ein: Feuerwehr und Rettungsdienst, wo ist der Notfallort?
Beim letzten Leitstellensystem das ich kennengelernt habe, musste danach die Frage Atmet der Patient? mit einer Ja / Nein Auswahlmöglichkeit beantwortet werden, bevor weitere Schritte überhaupt freigegeben wurden. In dem Moment wo dort Nein angeklickt wurde, hat das System nicht nur die zu alarmierenden Kräfte angepasst bzw. hochgestuft, sondern auch den Text / die Anweisungen für die Telefonreanimation eingeblendet.
Ein weiteres Problem der W-Fragen ist wohl auch neben der Tatsache, dass sich diese im Stress kaum jemand merken bzw. abrufen kann, dass die Menschen im Stress die Leitstelle angerufen, die W-Fragen heruntergebetet und dann wieder aufgelegt haben. Die Leitstelle bekommt die Rufnummer eingeblendet, aber auch ein Rückruf kostet eben Zeit, wenn noch Dinge unklar geblieben sind / es Rückfragen gibt.
Insbesondere im BDSM Kontext kann man es vielleicht wie ein temporäres Machtgefälle sehen. Top sitzt in der Leitstelle und leitet das Gespräch. Bottom ist am Einsatzort und meldet bzw. beantwortet entsprechende Fragen.
Natürlich ist es da gut, wenn Bottom weiß, was Top gefällt. Also z.B. weiß, dass es die W-Fragen gibt und diese idealerweise auch kennt. Wann Top aber welche Antwort hören möchte, wird dieser entscheiden.
Die Menschen in der Leitstelle machen das beruflich. Die sind entsprechend geschult, qualifiziert und sind selbst aktiv gefahren. Die wissen, was sie da tun. Daher braucht niemand Angst haben, etwas falsch zu machen, wenn man anruft.
Ein Grundsatz, den ich gerne vermittle, ist, dass wenn man ernsthaft darüber nachdenkt, ob man anrufen soll oder nicht, die Antwort immer ja ist. Das soll nicht bedeuten, dass man anrufen soll, weil man sich den Fuß gestoßen hat. Und auch wenn man seit ner Woche Bauchschmerzen hat, ist das grundsätzlich kein Grund am Wochenende und mitten in der Nacht die Rettung zu rufen. Wenn sich einfache Bauchschmerzen aber zu einem Vernichtungsschmerz entwickeln, rufe ich bitte an.
Grundsätzlich ist z.B. ein Vernichtungsschmerz immer ein guter Indikator dafür anzurufen. Wenn man dann feststellt, dass dieser Vernichtungsschmerz daher kommt, dass man auf einen Legostein getreten ist, braucht man allerdings nicht anrufen. (Also das zur Definition Vernichtungsschmerz... )
Kleines Beispiel aus eigener Erfahrung war ein Tauchunfall bzw. Buddyverlust am Attersee.
Wir sind zu viert ins Wasser und haben uns unter Wasser verloren, weil extrem schlechte Sicht war. Ich und mein Buddy sind aufgetaucht. Die anderen beiden nicht. Wir sind raus aus dem Wasser und ich weiß noch, wie ich am Rand stand, auf das Wasser schaute und alles glatt war. Neben mir stand ein Tauchlehrer aus Österreich, den wir an dem Tag kennengelernt hatten. Der war mit seinem Tauchschüler fertig und hatte es halb mitbekommen.
Ich weiß noch, wie ich aufs Wasser schaute, ihn anguckte und sagte: "Ich bin nicht glücklich!" und wie er aufs Wasser und dann mich anschaute und sagte "Ich auch nicht!"
Und ich hatte echte Hemmungen den Verlust zu melden und einen entsprechenden Alarm auszulösen, weil ich wusste, was dies bedeutet und was an Einsatzkräften alles dran hängt. Die Gedanken, ob man nicht noch 10 Minuten wartet, ob die vielleicht doch wieder auftauchen. Und dann die Überlegung, was ist, wenn es genau diese 5 - 10 Minuten sein könnten, die eine Rettung vielleicht zu spät kommt.
Wir haben angerufen und es dauerte nicht lange, bis im gesamten Ort die Sirenen heulten.
Noch bevor die ersten Einsatzkräfte eintrafen, kamen die beiden aus einer komplett anderen Richtung und waren verwundert, was der Lärm und die Aufregung sollte.
Die beiden waren der Meinung, dass sie auftauchen, wenn sie sich als Buddyteam verlieren. Ich und mein Buddy waren der Meinung vereinbart zu haben, dass wir auftauchen, wenn wir uns als Gruppe verlieren. Klassischer Fehler aufgrund fehlender bzw. mangelnder Kommunikation.
Wir sagten den Alarm ab und einige Minuten später stand trotzdem die Polizei auf dem Platz. Die Polizisten wollten mit jedem einzeln sprechen und erfahren, was gewesen ist. Dabei wirkten die doch sehr angespannt und humorlos. Danach besprachen diese sich kurz, führten uns als Gruppe wieder zusammen, wurden sichtlich entspannter und bedankten sich, verbunden mit der ausdrücklichen Bitte doch immer wieder genau so zu handeln, wenn wir in eine vergleichbare Situation kommen würden.
Knappe zwei Wochen zuvor und einige Meter weiter war ein Tauchschüler bei einem Tauchunfall tödlich verunglückt. Diese Erfahrung saß wohl noch tief. Und niemand möchte zu spät kommen.
Aber auch dies ist ein Grund mehr für eine gute Schulung und damit die grundsätzliche Möglichkeit problematische Vorfälle besser erkennen zu können.
Es geht dabei auch gar nicht um Perfektion. Aber gut zu wissen, dass, wenn das Gesicht plötzlich nicht mehr so symmetrisch ist, wie es gerade noch aussah und mein Gegenüber anfängt Unsinn zu reden, man auf der 112 mal nachfragen sollte, ob das so sein soll.