@mike
Das ist kein "Weltumarmungsgefühl" (kann es manchmal sein, aber im Alltag ohne Verliebtheit etc. gibt es dieses Gefühl ja auch). Was "Nächstenliebe" ist, entzieht sich mir ein wenig, Mitgefühl? Ich habe diesen Begriff z.B. auch nie richtig verstanden.
Und vor wenigen Jahren hätte ich das, was ich da beschreibe, auch noch nicht verstanden oder für Quatsch abgetan (ich bin bekannt als ziemlich rationaler Mensch
). Aber ich bin mit einer Situation konfrontiert gewesen, die existentiell bedrohlich war, umfassend in vieler Hinsicht. Seitdem haben sich für mich viele Prioritäten als völlig nutzlos erwiesen und sich der komplette Wertungsmaßstab umgekehrt. Ich hätte damals ähnlich wildeorchidee zu dem Schluß kommen können "die Welt ist ein Eimer Scheiße, die meisten Menschen die größten Arschlöcher etc.". Mein Ansatz war aber ein völlig anderer ... Ich habe mich gefragt "Warum tut das diese Person? Was zwingt ihn dazu, so zu handeln, wo er sich doch auch schadet? Was habe ich beigetragen?". Und die Antworten, die ich darauf fand, haben mich tiefstes Mitleid mit dieser Person fühlen lassen und ein Begreifen, daß vieles an dem ganzen Prozeß unglücklichstes Zusammenspiel war, regelrecht zwangsläufig, aber auf beiden Seiten individuell mit besten Absichten.
Jeder hat gesagt "Warum kümmert Dich das Arschloch noch?" und meine Antwort war "Weil er mir leid tut, weil ich inzwischen so viel verstehe und er wie eine Marrionette getrieben wird durch seine Programme, Trigger. Das ist tragisch.". Geben mußte ich nichts, aber lernen konnte ich. Ansonsten habe ich nur noch gearbeitet, irgendwie da durch zu kommen, ein Schritt nach dem anderen. Ich war völlig im hier und heute, was gut war, war gut, der Rest ein Problem, für das sich eine Lösung finden würde.
Meine Einstellung zu Menschen ist seitdem: wir sind so wenig selbstbestimmt, wir bilden uns so oft ein, daß wir entscheiden und handeln, aber eigentlich laufen da Programme ab, die zu akzeptieren wir meistens verdrängen. Böse Absichten gibt es kaum, meistens zielt alles auf etwas (zumindest für den Agierenden) positives ab. Nur, wenn es negative Folgen für andere hat, hat es für den Agierenden auf Dauer auch welche. Er schießt sich selbst ins Knie und merkt es nicht.
Das ist ... tragisch, absurd, kosmische Ironie, egal.
Aber mit dieser Sichtweise kann ich Menschen, egal wie alt oder sonstwas behandeln mit der Nachsicht von kleinen Kindern ... Sie wissen nicht, was sie tun. Und wenn Du das verbindest mit dem Gedanken, daß Du selbst entscheiden kannst, ob Dich etwas ärgert, ob es Dich erreicht, Du kannst immer etwas tun - dann bist Du so selbstbestimmt und unabhängig, daß Du das Negative genauso beherrschst wie das Positive. Nämlich, ob es Dich erreicht. Es gibt wenig, was Du wirklich brauchst, wenig, was Dich wirklich tangiert und Du kannst geben, was Du möchtest (und der andere annehmen möchte), keinerlei Zwang. Das erzeugt eine innere Freiheit und einen Frieden, der plötzlich dieses Gefühl im Bauch erzeugt für die Menschen um mich herum - das ich in Ermangelung eines anderen Wortes "Liebe" nenne. Keine die wächst oder größer oder weniger wird, sie ist immer da. Sie ist nicht die romantische Liebe oder sonstwas.
Ich bin froh, daß es diese ganzen Menschen gibt. Sie alle schaffen Leben, sei es, weil sie da sind, sei es, weil sie Kinder bekommen. Sie schaffen die Welt, in der ich lebe - eine aus Sicherheit, Gesundheit, Komfort, Genuß. Damit bekomme ich unglaublich viel, ohne eigentlich um etwas im Austausch gebeten worden zu sein. Für diese Dinge bin ich sehr dankbar, aber dieses Gefühl ist nicht einfach Dankbarkeit, es ist eine ganze Menge mehr.
Übrigens kann Resilienz auch durch schwere Krankheiten ausgelöst werden, das ist dann der Fall, wenn jemand sagt "ich bin dankbar für diese (unheilbare) Krankheit, sie hat mir die Augen geöffnet für das, was ich habe, ich bin heute glücklich und das Leben ist intensiv wie nie". Mit Torschlußpanik hat das auch nichts zu tun.