Ein Tag - zwei Leben
Teil 1Sechs Uhr, der Wecker klingelt. In einer Stunde beginnt meine Schicht. Aufstehen, Duschen, Tasche packen, den Rhythmus habe ich verinnerlicht. Nach 25 Jahren sollte das auch so sein. Was neu ist, niemand ist da, der mich verabschiedet. `Neu`, denkt sich Christian ist weit übertrieben. Seit acht Jahren ist er von seiner Ex-Frau getrennt. Sie schätze die wenigen Schichten im Monat, nicht aber die ständige Bangnis, die sie umgab, wenn er sich seine Uniform anzog.
Schnell noch den Blumen Wasser geben und dann die Tasche über die Schulter geworfen und los. Keine Zeit für einen Kaffee, keine Zeit für ein Toast. In 30 Minuten ist Antritt und Übergabe. Die Fahrt zur Wache ist wie jeden Morgen. Egal ob Sommer oder Winter. Die Breite Straße hinunter, links weg in die Kastanienallee und dann nur noch über den Ring in die Brandenburger Straße. Es regnet. Im Herbst nicht ungewöhnlich. So ziehe ich die Kapuze über den Kopf, stecke den Hals in die Kragen und radle los. `Merklich kühl heute Morgen` denke ich mir und bemerkte, dass ich meine Musik noch gar nicht eingeschalten habe. Bei SKA und OI sind mir hupende und meckernde Autofahrer egal. Bei dem Wetter und den ersten Blättern auf den Geh- und Fahrradwegen bleibe ich lieber auf der Straße. Ein Ausfall wegen eines Sturzes? Jetzt? Um diese Uhrzeit? Das würde den ganzen Dienstplan durcheinanderbringen. Wer würde dann für mich einspringen. Michael vielleicht. Nein, der ist mit seinem Nebenberuf als Dozent an der Rettungsschule beschäftigt. Peter? Mit seinen 54 Jahren, kurz vor der Pensionierung? Nein, er schon gar nicht. Nur zehn Minuten mit Ska und Oi im Ohr und der Regen, die Blätter, das Hupen und Motzen waren vorüber. Das Fahrrad schiebe ich wie immer durch die Fahrzeughalle, stelle es im Hof unter das Vordach. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich das Schloss suche. Ich hatte noch nie ein Fahrradschloss. Wozu auch. Hier im Hof der Wache würde niemand mein Fahrrad stehlen können. Ein Blick noch aufs Handy. Noch zehn Minuten bis Antritt. Ich beeile mich. Haste die Treppen in Zweierstufen hinauf, werfe meine Tasche auf mein Bett und hole meine Tagesdienstuniform aus dem Schrank. Hemd aus, Schuhe aus, Hose aus. Und alles in gedrehter Reihenfolge wieder an. Marineblau, die Farbe für den Mann von der Feuerwehr. Gleich gibt es den ersten Kaffee. Zunächst aber noch ein Blick auf die Anzeigetafel. Vier Einsätze diese Nacht. Die Jungs hatten echt zutun. Das hießt doch wieder Schläuche waschen.
„Morgen meine Herren“ kommt Heino auf mein Zimmer. „Guten Morgen Oberbrandrat“ melde ich mich zurück, dann geht er und ich höre, wie er auch bei Steffen, Thorsten, Felix, Michael und all den anderen an die Türen klopft und einen guten Morgen wünscht. Dann ruft er uns fünf auf den Flur zu einer kurzen Tageseinweisung. „Sie übernehmen heute das Tanklöschfahrzeug als Staffel. Staffelführer ist Hauptbrandmeister Voigt. „Verstanden“, hallt es vereint. „Für den weiteren Dienst, meine Herren. Die Schläuche der letzten Nacht müssen durch die Anlage und ich würde gern sehen, dass sie auch alle noch fit unter Atemschutz sind. Wir veranstalten nachher einen kleinen Parcours. Mit den alten Doppelgeräten.“ Ich wusste es. Schläuche waschen. Ich nicke und gehe zurück in mein Zimmer.
„Scheiße verpennt“. Ich hätte schon vor 30 Minuten auf Arbeit sein müssen. Dass mich mein Kater nicht wach gemacht hatte. Normalerweise ist er um sechs doch schon beinahe verhungert und trampelt mir auf dem Bauch herum. Wo ist er überhaupt. „Kurt?“ „Komm her Du Räuber.“ „Da bist Du ja.“ „Hier dein Futter, Frauchen hat heut keine Zeit. Du böser Junge hast mich ja nicht geweckt“, „Sei artig. Tschüss.“ Ich konnte ihn nicht mal schmusen. Gerade so die Zähne habe ich geputzt. Hoffentlich muss ich nicht heute noch Bein zeigen, das wäre mir echt unangenehm. Immer dieses Geschleppe. Ich brauch unbedingt ein anderes Fahrrad. Eins, das nicht so schwer ist und das ich aus dem Keller tragen kann. Jetzt aber los. Mozart ins Ohr und los. Es regnet. Auch das noch. Meine Frisur ist nachher ruiniert. Toll. Wie eine Wilde trete ich in die Pedale. Fühle mich beinahe wie eine Jugendliche, als ich über den Bordstein mit meinem Rad springe und auf der Straße lande. Schnell noch über die Kreuzung und dann links weg in die Einsteingasse. Lkw. Ich bremse mit beiden Bremsen. Trete in den Rücktritt und merke, wie mich mein Hinterrad überholt. Ah. Scheiße. „Ist ihnen was passiert junge Frau“, schaut mich ein älterer, dickerer Herr an. „Mensch, dat hätte ins Aure jen können meine Jute“, „Ach geht schon“, wiegle ich ab und versuche aufzustehen. „Ahh“, stöhne ich. „Also doch wat jebrochen. Dit Ben wa? „Ja, mein Fuß.“ „Warten se. Ick helf ihnen uff und dann setzen wir sie erstma an die Wand da. Kann ma einen von den Glotzköppen nen Krankenwaren rufen?“, brüllt der nette Herr. Erst jetzt bemerke ich die Menschentraube um mich herum. Meine Güte ist das peinlich. „Nein, nein. Lassen sie mal. Ich nehme nur schnell mein Fahrrad und dann bin ich auch schon weg“, versuche ich zu beschwichtigen. „Dit glob ich nich. Da schauen se ma. Von ihrem Dratesel is nich mehr viel über.“ Tatsächlich. Mitten unter dem Lkw sehe ich noch das Lenkrad herausstechen. „Sie haben echt Glück jehabt. Könn se globen.“ Ich denke auch.
So jetzt erst einmal einen Kaffee und dann ab zur Schlauchwachanlage. „Tiedü. Tiedong – Rettungswagen 83 VKU Bachstraße Y1.“ „Ach guck an. Hat ja nicht lange gedauert. Bei dem Wetter kein Wunder. Bestimmt wieder eine zu dicht aufgefahren und dann hats gekracht“, meint Felix. Ich zucke nur mit den Schultern. Ich brauche jetzt meinen Kaffee. Dumpf höre ich, wie der Rettungswagen die Wache verlässt. Sein Martinshorn verstummt, wie immer hinter dem Kreisverkehr am Kanalufer. „Wo ist denn die Milch?“, frage ich in die Runde. „Wo sie immer ist. Im Kühlschrank“ gibt Thorsten zurück. „Ach. Wenn ich da mal nicht schon nachgesehen hätte“, erwidere ich. „Ja dann im Vorratsraum“, zwinkert er. Ich lasse die Tasse stehen und gehe den Flur herunter, öffne den Vorratsraum, schalte das Licht ein und suche nach der Milch. Aus der Zwölferstiege nehme ich gleich zwei Liter mit. Sicher ist sicher.
Endlich. Der erste Schluck meines inzwischen lauwarmen Kaffees ist wie eine Offenbarung. „Wann gedenken die Herren ihr Tagwerk zu beginnen“, kommt plötzlich der Oberbrandrat in den Raum. „Sofort“ springt Steffen auf. „Mein Kaffee“ werfe ich genervt ein. „Trink Du mal aus. Wir fangen schon mal an.“ Ich quittiere mit einem erhobenen Daumen, lehne mich an Fensterbrett und schaue dem Treiben auf der Straße zu, während ich Schluck für Schluck die Tasse leere.
In der Schlauchwerkstatt sind Thorsten, Felix, Michael und Frank schon dabei, die ersten Schläuche aufzuhängen und hochzuziehen. Ich helfe beim Ausrollen der restlichen B-Schläuche und lege sie auch gleich in die Anlage. „Viele Hände schnelles Ende“, mein Frank und geht erst einmal eine Zigarette rauchen. Wir anderen gehen mit, auch wenn keiner von uns raucht. Wir sind eine Einheit, also bleiben wir in der Regel auch zusammen. Außer beim Gang zum Ort der inneren Glückseligkeit. Der Toilette. Sie hat diesen Namen mal von Peter bekommen. Er meinte, er hätte noch nie jemanden von dort kommen sehen, der nicht zufrieden geschaut hätte. Das hat sich nun so eingebürgert, weshalb wir uns auch so abmelden, falls mal jemand. Na ja muss. „Wann hat Vahlberg eigentlich die Übung angesetzt?“, will Michael wissen, da hören wir wieder das „Tiedü-Tiedong – TLF 42 – Wiener Straße B1“. Frank wirft sofort seine Kippe auf den Hof. Gemeinsam laufen wir in die Fahrzeughalle, schlüpfen in unsere Einsatzuniformen und besteigen das Tanklöschfahrzeug. Michael ist Maschinist. Er reißt kurz hinter dem Tor das Lenkrad herum und wir kullern erst einmal durch den Mannschaftsraum. „Sorry Jung, aber die Katze wollte ich jetzt nicht zu Gulasch verarbeiten“, merkt er nüchtern an.
„Gut Tag, mein Name ist Brandmeister Friedrich und dass ist mein Kolleg Oberbrandmeister Wiedemann. Wir sind von der Berufsfeuerwehr und heute im Rettungsdienst tätig. Können Sie uns erzählen, was passiert ist?“ Für einen Moment muss ich überlegen. Nicht, weil ich nicht weiß, was passiert ist. Nein, weil der ältere Herr scheinbar besser über den Hergang meines Missgeschicks Bescheid weiß als ich selber. Wie schnell er spricht: „Die Frau kam da aus der Straße und ick von da. Naja, sie ist dann rüber und ick, ick konnte nich mehr bremsen. Verstehn se. Dit war einfach scheiße jelofen.“ Zum Glück kümmert sich der eine von den Sanitätern um den Mann. Mensch tut der mir leid. Nur weil ich es eilig hatte. Aber die Schmerzen im Fuß sind doch ganz schon stark. „Können sie mir sagen, was passiert ist?“, fragt mich der nette Herr von eben mit ruhiger und freundlicher Stimme. „Ich denke, ich bin ausgerutscht, gefallen und jetzt sitze ich hier.“ „Haben sie Kopfschmerzen? Tut ihnen irgendwo etwas weh?“, wenn sie mich schon so fragen, ja. Mein linker Fußknöchel. Ansonsten merke ich erst einmal nichts“, gebe ich zurück. „Darf ich sie kurz einmal abtasten und sie fragen, welcher Tag heute ist?“, „Klar. Freitag.“ Behutsam beginnt der junge Sanitäter zunächst meinen Kopf, dann meinen Hals, meine Schultern, meine Arme und Beine abzutasten. „Haben sie dabei irgendwo einen Schmerz gespürt?“, fragt er mich in dem gleichen freundlichen, ruhigen Tonfall wie zuvor. „Nein. Nicht bewusst.“ „Gut, dann würde ich mir jetzt ihren Fußknöchel ansehen. Dafür müsste ich ihnen den Schuh ausziehen und die Hose etwas hochschieben.“ „Machen sie mal“, gebe ich etwas genervt zurück. „Wenn ich hier drücke“, „Ah“, überkommt es mich. „Ok. Schon gut.“ „Was ist denn?“, frage ich. „Ihr Fußknöchel ist etwas geschwollen. Ich würde vorschlagen, wir bringen sie ins Krankenhaus, dort können die Ärzte eine genaue Diagnose vornehmen. Sind sie damit einverstanden?“, „Habe ich denn eine Wahl?“, frage ich noch stärker genervt. „Sie könnten auch eine Behandlung ablehnen, was ich ihn nicht empfehlen würde. Aber darauf hinweisen muss ich sie schon. Und wenn ich ehrlich sein darf. Mit dem Fuß kommen sie nicht weit und ihr Fahrrad. Na ja, damit werden sie wohl nicht mehr sehr weit kommen“, schaut er mich sorgenvoll an und dann in Richtung des Lkw. Ich schaue an ihm vorbei, schaue auf mein vollkommen verbeultes Rad und fasse mir an den Knöchel und entscheide: „Gut, dann fahren wir wohl ins Krankenhaus. „In Ordnung. Pierre bringt Du mal den Stuhl?“, ruft er seine Kollegen. Kurze Zeit später helfen mir die beiden in einen Sitz mit vier Griffen und tragen mich wie einen Pharao in den Krankenwagen. `Toll` denk ich mir noch so, ´es hat aufgehört zu regnen`.