Eine Liebesgeschichte zweier Frauen - Teil 4
[Anmerkung: Eine Reise aus Besorgnis und ... ]
AZAD RAMIN AZIZI
Ich sitze in meiner kleinen Studentenbude in Erlangen. Mein Telefon klingelt.
„Hallo Asa, hast du deinen Flug noch erwischt?“
„Nein, ich fliege morgen Früh um 9 Uhr. Mit meinem Kunden habe ich bereits gesprochen. Zusammen mit meinen Technikern und Ingenieuren werden wir den Kunden um 13 Uhr in den Räumen von VoTec-Kanada in Toronto treffen.
„Du hättest mich ruhig mitnehmen können. Ich war noch nie in Toronto. Ich war noch nie in Kanada.“
„Babett, das ist keine Urlaubsreise. Vermutlich würde ich keine Minute für dich Zeit haben.“
„Ja, ja, das ist mir schon klar. Aber … „
Meine Stimme klingt sehr traurig, trauriger als ich das wollte.
„Ach komm schon, mein Sonnenschein. Wir können das nachholen.“
„Ja, ja.“, antworte ich patzig.
„Okay Babett, ich nehme unseren Toronto-Urlaub in meine Bucket List auf. Bevor ich den Löffel abgebe, werden wir beide durch den Glasboden des CN-Towers nach unten schauen, selbst wenn ich dabei Todesängste ausstehen muss.“
„Die Niagara-Fälle will ich auch sehen und auf einer 10-spurigen Stadtautobahn fahren. Wohlgemerkt, eine Autobahn, die 10 Spuren in eine Richtung und weitere 10 Spuren in Gegenrichtung hat.
Und natürlich will ich in das ROM, das Royal Ontario Museum und mir die Ausstellung über die Ureinwohner Kanadas anschauen. Und ich will auf einem 3-Mast-Schoner aus den 1930er Jahren eine Segelschiff-Bootstour … „
Asa unterbricht mich mit ihrer Nörgelstimme.
„Genug damit! All das werden wir machen und noch vieles mehr, aber jetzt gerade habe ich andere Sorgen und muss mich auf meine Arbeit konzentrieren.“
„Gleich habe ich eine Videokonferenz mit meinen Leuten in Toronto. Vielleicht habe ich eine prinzipielle Fehlermöglichkeit gefunden. Manchmal werden bei unseren Berechnungen Formeln verwendet, die nur in einem eingeschränkten Winkelbereich gelten. Bevor die Formeln angewendet werden dürfen, muss sichergestellt sein, dass der auftretende Winkel innerhalb des erlaubten Winkelbereichs liegt. Nun muss man die Stellen im Quellcode finden, die diese Fehlermöglichkeit erlauben. Wahrscheinlich schlagen wir uns die halbe Nacht um die Ohren, um Fehlerstellen zu finden.
Langweile ich dich?“
„Nein, nein Asa, für mich klingt das wie ein Krimi, in dem ihr den Übeltäter aufspüren müsst. Das ist doch total spannend.
Apropos spannend. Das war spannend und oberpeinlich, mit dem Professor von Hohendings.“, wechsle ich abrupt das Thema.
„Ich fürchte, der wusste genau, was wir gemacht haben. Wie soll ich mich nur verhalten, wenn er mich wieder trifft? Laufe ich dann weg oder bekomme ich einen Herzanfall?“
„Babett, reiß dich zusammen! Dann weiß er eben, dass wir zwei sexuell aktive Frauen sind, na und? …
„Hier mein Rat: Erwähne den Vorfall nicht von dir aus. Falls jemand auf den Vorfall zu sprechen kommt, dann halte deinen Kopf oben und lasse keinen Zweifel daran, dass du stolz darauf bist. Mache eine ironische Bemerkung und zeige, dass du über den Dingen stehst.“
„Ich werde es versuchen, Asa. Aber den Stolz wird mir niemand glauben, wenn ich mit feuerrotem Gesicht dastehe und kein Wort rausbringe.“
„Dazu gibt es keinen Grund. Als die Lewinsky-Clinten Oral-Affäre herauskam, bekamen Clintons Demokraten ordentliche Zugewinne im Repräsentantenhaus. Insgeheim und manchmal ganz offen bewundern uns die Menschen. Wir sind sexuell aktive Vorbilder, die sich das trauen, wovon solche Menschen nur träumen.“
„Wow, du kannst überzeugend sein. Hoffentlich weiß dieser Herr von Schlumpfhausen auch, dass ich sein Vorbild bin.“
„Babett, ich muss Schluss machen.
Der Zeitunterschied zwischen Erlangen und Toronto beträgt 6 Stunden. Wenn in Toronto um 12 Uhr zu Mittag gegessen wird, dann ist es in Erlangen 18 Uhr und Zeit für das Abendessen. Ich rufe dich morgen von Toronto aus an. Träum was Schönes – aber bitte von mir!“
„Ich vermisse dich, meine Zauberhexe. Bis morgen.
**
Asa meldet sich nicht, weder am Dienstag noch am Mittwoch. Wenn ich ihr Smartphone anrufe meldet sich nur der Anrufbeantwortet. Ich bin beunruhigt.
Ich krame die Visitenkarte von Felix aus meiner Handtasche und rufe ihn an.
„Hallo Felix, hast du schon Sehnsucht nach mir, so allein in deinem Büro?“
„Mir ist garantiert nicht langweilig, so allein in meinem Büro. Das heißt nicht … natürlich freue ich mich auf die neue Schreibtisch-Nachbarin. Was kann ich für dich tun?“
„Felix, ich habe seit Tagen nichts mehr von Frau Dr. Wolf gehört. Weißt du, was da los sein könnte?“
Felix räuspert sich und schluckt.
„Ich weiß nichts Genaueres, aber ich habe beim Mittagessen mitbekommen, dass sie Frau Dr. Wolf in Toronto ins Krankenhaus gebracht haben.“
Jetzt mache ich mir wirklich Sorgen. Meine Stimme klingt aufgeregt.
„Weißt du was passiert ist? Weißt du was ihr fehlt?“
„Nein Babett, wie gesagt, ich habe nur ein paar Gesprächsfetzen mitbekommen. Vielleicht rufst du Asas Mutter an, die könnte informiert sein.“
„Hast du ihre Nummer, Felix?“
„Nein, habe ich nicht. Aber ich könnte versuchen die Nummer herauszubekommen.“
„Ach, nicht nötig Felix. Und immer schön fleißig sein, auch wenn ich nicht auf dich aufpassen kann in deinem einsamen Büro!“
„Darüber brauchst du dir keine Sorgen machen, mein zweiter Vorname ist ‚Fleißig‘.“
„Danke für die Info. Tschüss Felix.“
Was bin ich für ein Depp:
‚Felix, es ist nicht nötig, dass du mir die Telefonnummer ihrer Mutter besorgst.‘
Geht’s noch? Wie soll ich jetzt an die Nummer rankommen?
Ich kenne nicht mal den Vornamen ihrer Mutter und ihren Wohnort auch nicht.
Hoffnungslos.
In meinem Zimmer laufe ich im Kreis und werde immer unruhiger. Ich drehe eine Runde nach der anderen und dann fasse einen Entschluss.
**
Asa liegt im Krankenhausbett und schläft. Sie ist sehr bleich. Ich halte ihre Hand.
Der Arzt wollte mir nichts über ihren Gesundheitszustand verraten, weil ich keine Familienangehörige bin. Zumindest haben sie mich in ihr Zimmer gelassen.
Ich will endlich wissen was los ist, aber sie schläft.
Einfach den nächsten Billigflug nach Toronto zu nehmen, war sicher nicht die rationalste Entscheidung meines Lebens.
Damit sie aufwacht, beschließe ich spontan, ihr ein Ständchen zu bringen. Ich erinnere mich an das Ende des Lieds ‚Feels Like‘ von Gracie Abrams. Nachdem ich mich geräuspert habe, beginne ich zu singen:
And I need you sometimes
We'll be alright
Met you at the right time
This is what it feels like
And I miss you some nights
We'll be alright
Met you at the right time
This is what it feels like
I would do whatever you wanted
We don't have to leave the apartment
Met you at the right time
This is what it feels like
Langsam erwacht Asa. Sie scheint etwas benommen zu sein. Mit dünner, zittriger Stimme sagt sie:
„Singen kannst du also auch nicht.“
Sie drückt meine Hand fester und lächelt mich an. Es ist ein freundliches, wohlwollendes Lächeln und mir wird klar, dass sich die Reise, der ganze Aufwand und die Kosten, dass sich alles gelohnt hat.
„Wie geht es dir Asa?“
„Mir geht es gut. Die Ärzte hier haben bei mir die unterschiedlichsten Untersuchungen durchgeführt, aber nichts Schlimmes gefunden. Morgen Früh werde ich entlassen. Ich soll mich schonen. Das ist alles. Die Ärzte habe irgendwas von ‚Fatigue-Syndrom‘ gefaselt, weil sie für alles einen Namen haben müssen.“
„Nein, dir geht es nicht gut. Hast du dich im Spiegel angeschaut? Du bist leichenblass. Was war denn los, bevor sie dich ins Krankenhaus gebracht haben?“
„Durch die viele Arbeit, die Fliegerei und viel zu wenig Schlaf, … ich war bei der Besprechung mit dem Kunden und meinen Ingenieuren nicht fit und bin einfach umgekippt. Das war zwar peinlich, aber sowas kann jedem mal passieren.
„Dann ist ja alles gut und morgen können wir wieder zur Tagesordnung übergehen.
Asa, ich glaube dir nicht. Du verheimlichst was.“
Asa schweigt. Irgendetwas brodelt in ihr. Ich gebe ihr etwas Zeit.
Nach 2 Minuten Stille werde ich ungeduldig.
„Wenn du es mir nicht sagen kannst, dann sprechen wir von etwas anderem. Von meinem alten Auto, zum Beispiel.“
Asa schüttelt den Kopf. Sie schaut mich nicht an.
„Von deinem alten Auto …“
Ein tiefer Seufzer entfährt ihrer Brust.
„Mein Papa ist tot."
Wieder schweigt sie. Nach einer Weile, rüttle ich sie sanft an der Schulter.
„Asa, sieh mich an!“
Sie wendet mir ihr Gesicht zu.
„Das Problem ist, … wir hatten uns noch nicht ausgesprochen. Ich hatte es mir wirklich vorgenommen, aber dann kamen die Prüfungen dazwischen, die Wohnungssuche, die Bewerbungen, die Beförderungen, der Urlaub mit der neuen Freundin, …
Das alles war wichtiger.“
„Und jetzt der Brief meiner Halbschwester aus Teheran.“
‚Dein Vater, Azad Ramin Azizi, ist im Alter von 72 Jahren verstorben. Die Beerdigung hat vor 3 Tagen stattgefunden. Eine Kontaktaufnahme mit mir oder anderen Mitgliedern der Familie ist nicht erwünscht.‘“
„Prokrastination! So nennt man das ständige Aufschieben wichtiger Dinge, die man sich fest vorgenommen hat. Irgendein Scheiß war mir immer wichtiger.
Als die Ehe meiner Eltern geschieden wurde, ist er zurück in den Iran zu seiner anderen Familie. Seitdem hat er nicht mehr mit mir geredet. Er war telefonisch nicht zu erreichen. Meine Briefe kamen ungeöffnet zurück.
Dabei wollte ich ihm nur sagen, dass ich ihn sehr lieb habe und dass ich als Kind glücklich bei ihm war.
Ich wollte ihm sagen, dass ich ihm nicht böse bin, ganz gleich was er auch immer getan hat. Ich wollte ihm sagen, auch wenn er Mami betrogen und hintergangen hat, dass ich meinen Frieden mit ihm gemacht habe.“
Asa zeigt mir ihr tränenverschmiertes, tieftrauriges Gesicht und schweigt.
„Erzähl mir von deinem Vater. Und lass kein schmutziges Detail aus. Ich liebe schmutzige Details.“
Asa schüttelt den Kopf.
„Du bist so …“
„...pietätlos“, ergänze ich. „Komm schon, erzähl mir von ihm. Erzähl mir das, was dir wichtig ist.“
Asa starrt an mir vorbei aus dem Fenster. Sie holt tief Luft.
„Bevor mein Vater meine Mutter geheiratet hat, war er schon verheiratet und hatte zwei Kinder. Als er nach Deutschland kam war er 34. Als evangelikaler Christ im Iran hatte er kein Problem Asyl zu bekommen. Es war geplant, dass er seine Familie nachholt. Er hatte aber keine Lust seine Frau und seine Kinder nachzuholen. Stattdessen lernte er meine damals 20-jährige Mutter kennen. Meine Mutter wurde mit mir schwanger und die beiden haben geheiratet. Mein Vater hatte einfach den deutschen Behörden seine Ehe im Iran verschwiegen.“
„Papa war immer wirklich lieb zu mir. Er nannte mich Herzstück und Prinzessin. Er erzählte mir die tollsten Geschichten, hat mir die Feinheiten des Schachspiels beigebracht, hat mir den Umgang mit Schraubenschlüssel und Rohrzange gezeigt. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht, und wir standen uns sehr nahe.“
„Eines Tages erfuhr meine Mutter, dass ihr Ehemann noch eine weitere Familie hatte, dass er eine Doppelehe führte. Daraufhin hat sie meinen Vater verlassen und mich mitgenommen. Sie hat radikal jeden Kontakt abgebrochen. Wir haben uns praktisch vor ihm versteckt. Ich war gerade mal 14 Jahre alt und damals habe ich Papa das letzte Mal gesehen und ohne meinen Papa wurde ich sehr traurig.
Als ich 18 Jahre alt war wurde die Ehe meiner Eltern geschieden. Mein Papa war enttäuscht von meiner Mutter und von mir, seiner erwachsenen Tochter, die jetzt alles allein entscheiden konnte, aber trotzdem nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte.
Er ging nach der Scheidung wieder in den Iran zu seiner ersten Familie. Diese Familie gibt meiner Mutter und mir die Schuld daran, dass mein Vater sie verlassen hatte und sie hassen uns dafür.“
Asa weint. Langsam begreife ich.
„Du hast hier in Toronto vom Tod deines Vaters erfahren. Du kannst dich jetzt nicht mehr mit ihm versöhnen und weil die Nachricht von seinem Tod so spät kam, konntest du nicht mal bei seiner Beerdigung dabei sein und dich verabschieden.
Das alles und die Trauer um deinen toten Vater haben dich komplett umgehauen.“
„Asa, ich weiß nicht wie du das siehst, aber ich glaube, das Verhältnis zwischen einer Tochter und ihrem Vater ist etwas Besonderes. Was tust du nicht alles, damit dein Vater stolz auf dich ist?
Nach all der Studiererei will ich endlich arbeiten und der Welt einen Nutzen bringen. Nur weil Pappi sagt, er fände es ganz toll, wenn seine Tochter den Doktortitel hätte, studiere ich jetzt weitere 3 bis 5 Jahre. Die Industriepromotion war dabei nur ein Kompromiss.“
„Asa, hast du dich schon mal gefragt, warum du dir den ganzen Berufsstress antust? Warum willst du Stufe um Stufe aufsteigen, um am Ende auf irgendeinem Vorstandssessel zu sitzen? Geht es dir wie mir und du willst vor allem nur das dein Vater stolz auf seine Tochter ist?
Was aber passiert, wenn der Mensch, für den du das tust, plötzlich weg ist. Fällt man dann nicht in ein tiefes schwarzes Loch von Traurigkeit?
„Verdammt nochmal, warum bist du überhaupt hier Babett?
Mit dir habe ich nicht gerechnet. Du hast doch gesagt, dass du pleite bist? Offensichtlich hast du aber noch genug Geld, um von jetzt auf gleich nach Kanada zu fliegen.“
„Dafür habe ich mein altes Auto verkauft.“
„Verarsch mich nicht! Sowas macht kein normaler Mensch.“
„Macht er doch! Mein Auto war schon uralt, ist dauernd stehen geblieben, war ständig in der Werkstatt und die Werkstattkosten haben mich arm gemacht.
Also habe ich dieses ständige Ärgernis gegen einen Kanadaurlaub mit dir getauscht und du wirst meine Reiseführerin sein.
„Mir steht überhaupt nicht der Sinn danach, deine Reiseführerin zu sein. Du bist so gefühllos …“
„ … und pietätlos …“, ergänze ich.
„Du nimmst überhaupt nichts ernst. Du verspottest meine Trauer. Glaubst du, damit machst du mir eine Freude?“
„Jetzt reichts mir! Du hast gewusst das alle Menschen irgendwann sterben müssen, auch dein Vater. Wenn du jemanden etwas Gutes tun willst, dann tue es solange er noch lebt, nach seinem Tod ist es einen Scheiß Wert. Der ganze Totenkult ist scheinheilig und verabscheuungswürdig, er dient nur der Selbstbefriedigung der Hinterbliebenen.
Du hättest mit deinem Vater vor seinem Tod noch reden müssen, damit es ein Happy End wird. Okay, liebe Asa, das hast du voll verkackt.
Aber es nützt niemandem, wenn du dich selbst bestrafst und in einem dunklen Zimmer einsam in Depressionen versinkst, 4 Flaschen Rotwein am Tag trinkst und ins Bett pinkelst, weil du vor lauter Selbstmitleid das Klo nicht mehr finden kannst.“
Das waren die richtigen Worte, damit sich Asa wieder einkriegt. Asa schluchzt laut und schimpft irgendwas, was ich bei ihrem Heulen nicht verstehen kann …
Na ja, vielleicht waren es doch nicht ganz die richtigen Worte oder es war der falsche Zeitpunkt …
„Asa“, sage ich sanft und will ihr über die Haare streicheln, aber sie schlägt meinen Arm weg.
Sie setzt sich auf und sagt im scharfen Ton:
„Verschwinde!“
Ich schau sie verdutzt an.
Sie bekommt ein wütendes Funkeln in den Augen und schreit:
„Hau ab. Hau ab und lass dich nie wieder blicken. Los sieh zu, dass du Land gewinnst, sonst vergesse ich mich.“
Eine Krankenschwester hat das Geschrei mitbekommen und stürmt ins Zimmer herein. Sie sieht mich böse an.
„Sie gehen jetzt besser!“
Ich verlasse das Zimmer und fühle mich wie ein geprügelter Hund.
Asa, nicht nur du hast etwas voll verkackt ...
[Anmerkung: Es ist nur dann Ms. Right, wenn sie einen unbedachten Fehler vergeben kann.]
---- Fortsetzung folgt ----