Zitat von ***********lerin:
„Ich habe von meinem Vater gelernt (und es später in der Fachliteratur zu Beziehungen hundertfach wiedergefunden), dass eine gesunde Beziehung immer auch auf gesunde Weise um das Spannungsfeld Nähe/Distanz kreist. Beide Menschen spüren sowohl ihre eigenen Nähe- wie auch ihre eigenen Autonomiebedürfnisse.
Es gibt jedoch oft auch ungesunde Formen des Miteinanders, in denen einer von beiden seine eigenen Autonomiebedürfnisse kaum bis gar nicht wahrnehmen kann. Dieser Mensch (A) spürt dann ständig nur Nähebedürfnisse, ist bereit für den anderen, würde jederzeit zur Verfügung stehen, sobald der andere auch nur ein kleines Zeichen sendet, dass er endlich bereit dazu ist ...
A kommt überhaupt nicht dazu, auch mal die eigenen Autonomiebedürfnisse wahrzunehmen. Der unausgesprochene Beziehungsdeal zwischen beiden lautet nämlich: B übernimmt die Verantwortung sowohl für die eigenen Autonomiebedürfnisse wie auch die Autonomiebedürfnisse von B. Umgekehrt muss B sich niemals mit den eigenen Nähebedürfnissen auseinandersetzen, weil B die Verantwortung sowohl für die eigenen wie auch für Bs Nähebedürfnisse übernimmt.
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In einem gesunden System hat (innerhalb dieser Polarität) jeder die Verantwortung für zwei Bedürfnisse: Die eigenen Nähe- und die eigenen Autonomiebedürfnisse.
In diesem anderen, erschreckend häufigen System hat auch jeder die Verantwortung für zwei Bedürfnisse: Die Nähebedürfnisse von sich selbst und die Nähebedürfnisse des anderen (der seine eigenen Bedürfnisse in der Richtung deswegen nie spüren muss und ehrlich glauben kann, vor allem Autonomie zu brauchen), und der Gegenpol übernimmt die Verantwortung für die Autonomiebedürfnisse sowohl von sich selbst wie auch dem Gegenüber (das so ehrlich glauben und sich einreden darf, vor allem Nähebedürfnisse zu verspüren, und sich den eigenen Autonomiebedürfnissen nie stellen muss).
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Wie ich also damit umgehe, wenn ich mich ertappe, dass ich ganz, ganz viel Nähebedürfnis für einen anderne Menschen habe – das aber in der Grundstruktur des Systems zwischen ihm und mir nicht erfüllt wird und nicht erfüllt werden kann, weil er sich dafür viel zu sehr ändern müsste?
Ich frage mich, ob ich gerade dabei bin, in so ein ungesundes System zu rutschen. Ich prüfe gründlich: Wo überall spüre ich mich selbst im Moment zu wenig und ruhe mich darauf aus, dass der andere schon dafür sorgen wird, dass es keine zu enge symbiotische Verschmelzung wird, in der ich mich zu sehr auflöse?
Meist merke ich dann ganz erstaunt: Fuck, ich brauche tatsächlich im Moment eigentlich wahnsinnig viel Raum für mich selbst, ich hab mir das bloß nicht eingestanden, weil ich ja wusste, ich kriege eh nicht alles an Nähe, was ich anzubieten glaube, der andere schützt mich davor zu viel Autonomie aufzugeben. Wie nett von ihm! Aber schöner wäre es doch, wenn ich da für mich selbst sorgen würde und ihm diese Last abnehme, damit er auch mal wieder Raum hat, sich selbst vollständig zu spüren, inklusive der eigenen Nähebedürfnisse, wie auch immer sie aussehen.
Und dann treffe ich mich mit Freund:innen (andere Form von Nähebedürfnis), konzentriere mich auf meine Hobbys (ganz viel geben dürfen) und suche nach all den Dingen, wo ich mein Leben spüre und genieße.
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Im ersten Moment macht mir das jedes Mal etwas Angst, als ob ich den Partner damit im Stich lasse. Innerhalb dieser Betrachtungsweise tue ich das ja tatsächlich: Ich löse mich aus der Verstrickung, die besagt, dass ich permanent Nähebereitschaft signalisieren muss, damit der andere an dieser Stelle keinen Mangel mehr verspürt. In dem Moment, wo ich meinen eigenen Autonomiepol auf schöne und gesunde Weise stärke, kann ich nicht mehr gleichzeitig die Verantwortung für den Nähepol meines Gegenübers übernehmen. Und das kann sich tatsächlich wie ein Verrat anfühlen, wie ein Verstoß gegen die unausgesprochenen Regeln einer Beziehung, und es kann ein wenig Angst machen.
Wenn die Beziehung ein gutes Fundament hat, wird es in eine gute Richtung funktionieren. Wenn das Fundament scheiße ist, wird mein Gegenüber dann anfangen, zu sticheln und gemein zu sein und mir meinen Autonomiepol zu vermiesen, damit ich wieder meine unausgesprochene "Pflicht" erfülle, ständig nähebereit zu sein, ohne Nähe zu bekommen. Beides schon erlebt.
Seit ich mir das alles wirklich klar gemacht habe, achte ich viel mehr darauf: Ist mein Gegenüber jemand, der diese Balance hinbekommt, der sowohl eigene Nähe- wie auch Autonomiebedürfnisse wahrnehmen, ausdrücken und respektieren kann?
Vielen lieben Dank für diese Analyse, die für mich komplett neu ist. Das trifft es so gut, dass ich mehrmals lesen und durchsickern lassen muss.
Ich versuche gerade mit dieser Perspektive einzusortieren, warum sie deutlich unentspannter reagiert, sobald wir uns dem Themenbereich "ausserhäusige Freuden" nähern. Ich lasse sie alles ausleben was sich bei ihr (spontan) ergibt, und es inspiriert mich tatsächlich eher positiv in meinem Verhältnis zu ihr. Umgekehrt reagiert sie eher misstrauischer und restriktiver.
Wir sind zwar im ständigen Dialog, aber es ist lange noch nicht festgehalten, was an meinen Einzelaktionen sie als belastend, neutral oder vielleicht sogar beflügelnd empfindet.