Ich glaube, es war eine Geo spezial über das älter Werden, in der ich gelesen habe, dass sich mit Mitte 40 die Blickrichtung auf's Leben ändert. Bis dahin blicken die Menschen in die Vergangenheit und zählen auf, was sie schon alles getan haben. Dann ändert sich die Blickrichtung und sie schauen nach vorne und fragen sich: Was kann ich noch tun? Genau so war's bei mir.
Ich war gerade in der ersten Hälfte meiner 40-er als ich die Gelegenheit hatte, mit über einem Dutzen Menschen Mitte 80 zu sprechen. Ich habe sie alle eines gefragt: "Welchen Rat würden Sie mir, der ich halb so alt wie Sie bin, ganz pauschal aus ihrer Lebenserfahrung heraus geben?" Man beachte, dass alle diese Menschen wussten, dass der nächste Tag ihr letzter sein könnte. Alle haben mir das Gleiche gesagt: "Wenn du etwas tun willst, dann tue es! Irgendwann ist es zu spät." Ein Rat, auf den ich versuche zu hören.
Ich bin in meinem frühen 20-ern einmal mit Verdacht auf Krebs nach Hause geschickt worden. Dann kam die Untersuchungsmaschinerie und zwei Wochen später hatte ich die Diagnose, dass es ein gutartiger Tumor war. Ich lebe heute, fast 40 Jahre später, noch immer. Zum Abschied sagte mir der Arzt: "Daran werden Sie jetzt zwei oder drei Jahre zu kauen haben." Das stimmte sehr genau. Mir wurde dann, nach dieser Zeit, vom Arzt wieder etwas gesagt, nämlich, dass ich eine vorgezogene Midlife Crises hatte. Ich habe mein Leben neu bewertet.
Ich hatte damals eines gelernt. Es gibt drei Arten von Menschen. (1) Die einen sagen: "Ich lebe heute! Ich könnte morgen tot sein." Sie leben intensiv, nehmen mit was geht und haben in aller Regel ein schlechtes Finanzmanagement und manchmal einen hohen Substanzkonsum. M.E. vergessen sie, dass sie auch bei bester Gesundheit 100 werden könnten, sie werfen ihr Leben weg. Ich habe solche Lebensläufe über 20 oder 30 Jahre verfolgt, keiner von denen scheint glücklich geworden zu sein. (2) Die zweiten nenne ich die "Verschieber". Ich bemerke das schon an der Sprechweise. Sie tun alles "später", am Wochenende, im Urlaub, wenn die Kinder aus dem Haus sind, in der Rente. Und oft schließlich nie. Sie vergessen, dass sie morgen tot sein könnten. Sie tun so, als hätten sie einen Vertrag mit Gott, dass sie 100 Jahre alt werden könnten. (3) Die dritte Gruppe, zu der ich mich nach der Verdachtsdiagnose zähle, ist sich beider Varianten bewusst. Für uns ist ein Dilemma gegeben. Wenn es um eine Entscheidung geht, stelle ich mir zwei Fragen: Würde ich das Gleiche tun, wenn ich wüsste, dass ich nur noch kurze Zeit zu leben habe? Würde ich das Gleiche tun, wenn ich einen Vertrag mit Gott hätte, dass ich 100 Jahre bei bester Gesundheit lebe? Ist die Antwort auf beide Fragen gleich, dann wird dementsprechend gehandelt. Widersprechen sie sich, dann gilt es abzuwägen, was ich wirklich will. D.h., ich muss die Frage für mich beantworten, wie ich leben will.
Es sind die Dinge, die wir nicht tun, die wir am meisten bereuen. Wenn ich aber schon etwas bereuen muss, dann etwas, was ich getan habe. Ich habe statistisch 3/4 meines Lebens hinter mir und werde nächstes Jahr 60. Eine richtige Gruselzahl! Aber ich habe mir vorgenommen: Das nächste Lebensjahrzehnt wird das beste meines Lebens werden! Warum? Weil es schade wäre, wenn ich das beste Jahrzehnt schon hinter mir hätte!
Natürlich würde ich heute manches anders machen als "damals". Aber: Es ist müßig darüber nachzudenken, dass ich mit meinem heutigen Wissen in der Zeit zurück reisen könnte um dann mein Leben nochmals zu leben. Ich würde dann auch nicht mein Leben nochmals(!) leben sondern mein jetziges Leben in meinem jüngeren Körper in einer vergangenen Zeit fortsetzen.
Eine Definition von Glück ist, dass das Leben immer wieder Gelegenheiten bietet. Glück ist, diese Gelegenheiten zu erkennen und zu ergreifen.
Alles, was ich tun wollte in meinem Leben, habe ich getan. Das heißt nicht, dass ich jeden Exzess gelebt habe und alle mitgenommen habe, was sich angeboten hat. Sehr oft habe ich etwas unreflektiert getan oder unterlassen, gesteuert durch Fantasien, Wünsche aber auch Angst, Hemmungen und Blockaden. Ich habe mir sogar, sehr unglücklich, eine Reihe von Gelegenheiten, die mir das Leben bot, entgehen lassen. Ich kann aber dennoch nicht sagen, dass es etwas im Leben gibt das ich deshalb bereue, weil ich es nicht getan habe. Ich habe keine "bucket list".
Und genau so will ich weiter leben. Ich habe vor, die Dinge zu tun, die mir Freude bereiten. Ich meine Freude, nicht unbedingt Spaß. Ich will offen bleiben für neue Erfahrungen. Ich werde weiter Enttäuschungen und Schmerzen erleben und in Kauf nehmen um mir die guten Gelegenheiten des Lebens nicht entgehen zu lassen. Ich will mein Glück und meine Freude mit anderen Menschen teilen. Ich will, dass sich Menschen, die sich mit mir treffen, mit mir eine gute Zeit verbringen und dass sich diese Menschen und ich nach dem Treffen besser fühlen als vorher. Rein "technisch" und "messbar" gesehen will ich, dass ich als Fessler besser werde und meinen Modellen Freude und gute Gefühle bereite. Ich will jetzt, da Corona endlich hinter uns liegt, wieder reisen. Ich will meiner Frau auch in Zukunft nicht nur sagen sondern sie auch spüren lassen, wie sehr ich sie liebe. Ich will einige mir nahe stehende Menschen in dem fördern, was sie tun. Ich will, wenn meine Zeit gekommen ist, als ein zufriedener Mensch sterben.