Wir sind allgemeinhin ein sehr tolerantes Paar, das bezieht sich auch oder vor allem auf die Individualität anderer Menschen. Normalerweise feiern wir es regelrecht, wenn jemand seine Individualität auch auf offener Straße zeigt, und kritisieren oft die «Angepasstheit», die in diversen Ausprägungen struktureller Gewalt forciert wird.
Allerdings gibt es Grenzen.
Das Schwierige daran ist: wo zieht man diese Grenzen?
Idealerweise dort, wo die Freiheit und Selbstbestimmung anderer Menschen angegriffen wird. Aber auch das ist schwierig, weil individuell.
Ganz konkret auf Latex bezogen:
Es gibt diese Masken wie ABC-Masken oder jene, die ihr Vorbild im Tierreich haben, aber eben bewusst erschreckend oder furchteinflössend gestaltet sind.
Ich muss ehrlich sagen: das macht mir Angst. Es ruft in mir Assoziationen zum Krieg oder zu Horrorfilmen hervor. Ich möchte mit diesen Gefühlen in der allgemeinen Öffentlichkeit (in der Stadt, beim Einkaufen, im Baumarkt etcpp) nicht gern konfrontiert werden. Ich kann selbstverständlich weg sehen, aber erst, nachdem ich bewusst wahrgenommen habe, dass es da etwas gibt, das ich nicht sehen möchte - also muss ich vor dem wegsehen ja hinsehen. Ist das verständlich formuliert? Ich hoffe.
Mein Recht auf Selbstbestimmung wird aber beispielsweise in der geschützten Öffentlichkeit einer BDSM-Veranstaltung nicht angegriffen, wenn dort jemand die selbe Maske trägt.
Denn wenn ich zu dieser Veranstaltung gehe, dann weiß ich, dass es dort möglicherweise Dinge gibt, die mich verstören könnten - ich kann mich also darauf vorbereiten und besuche die Veranstaltung im bewussten Einvernehmen, dass dort Dinge ausgelebt werden, die nicht unbedingt auch meinem Kink entsprechen.
Demnach würde ich niemals auf die Idee kommen, das Tragen solcher Masken auf Veranstaltungen im entsprechenden Kontext zu kritisieren.
Und so verhält es sich mit allen Dingen:
Ich möchte im Baumarkt nicht Menschen begegnen, die eine Hose aus transparentem Latex tragen und darunter nichts. Denn ich möchte dort keine Geschlechtsteile Dritter sehen. Wenn sie diese Hose allerdings auf einer frivolen Veranstaltung tragen, dann stört mich das überhaupt nicht. Denn dort gehe ich hin im Bewusstsein, dass es exhibitionistische Menschen gibt, die sich dort in geschütztem Rahmen ausleben möchten. Und ich gönne ihnen diesen Rahmen von Herzen, auch, wenn ich selbst nicht exhibitionistisch veranlagt bin.
Tragen die selben Menschen aber im Baumarkt eine Hose aus Latex, der nicht transparent ist, dann wird meine Grenze dadurch nicht tangiert. Und somit stört es mich nicht im Geringsten, ich bewundere und beglückwünsche dann eher den Mut.
Am Ende würde ich es wohl so zusammen fassen:
Solange das Ganze mit einem guten Maß an gesundem Menschenverstand passiert, ist alles okay.
Dinge, die im gesellschaftlichen Konsens deutlich nicht toleriert werden, wie zB. unverdeckte, primäre Geschlechtsteile oder sehr furchteinflössende Kleidungsstücke, sollten dann eher in dementsprechend geschützten Bereichen getragen werden, wo sie niemanden ungewollt triggern können.
Individualität und auch ein gewisses Maß an Provokation sind super, die Berechtigung hierfür müssen wir garnicht diskutieren.
Aber ein bewusst verstörend wirkendes Auftreten in der Öffentlichkeit, das muss nicht sein.
Ich halte mich daran auch selbst: deutlich sichtbare Spuren an meinem Körper verdecke ich in der Öffentlichkeit, denn ich möchte niemanden schockieren, verstören oder ihm/ihr Sorgen bereiten. Auf BDSM-Veranstaltungen hingegen zeige ich sie mit Stolz, denn ich weiß, die Menschen dort wissen, was das für Spuren sind und auch, dass ich kein Opfer von häuslicher Gewalt bin.
Liebe Grüße,
Frl. Fernweh 🌷