Kapitel 4
Als ich mich außer Sicht- und Hörweite glaube, knipse ich die Taschenlampe an und beginne zu rennen. Ohne Rücksicht auf meinen keuchenden Atem, das Rauschen in meinen Ohren und das Flimmern vor meinen Augen hetze ich durch den Wald. Würde ich es überhaupt hören, wenn sie mich verfolgen? Ich verbiete mir die Frage. Ich werde kein Opfer werden! Schon gar nicht das meiner eigenen Ängste!
Das beruhigend alltägliche Schimmern der ersten Straßenlaternen treibt mir fast die Tränen in die Augen. Ich zwinge mich, etwas langsamer zu gehen und nicht alle drei Schritte über meine Schulter zu sehen. Das scheint zu helfen. Das Grauen, das mir eben noch im Genick saß, verliert seine scharfen Krallen und wird blass um die Nase. Es scheint an Substanz zu verlieren wie eine Eisscholle, deren Ränder zu schmelzen beginnen.
Mein freundliches Backsteinhaus empfängt mich mit dem beruhigenden Blinzeln seines Eingangslichts, und mir ist schon deutlich wohler zumute. Die schmiedeeiserne Klinke meiner Haustür fühlt sich so real und solide an, wie man es sich nur wünschen kann. Erleichtert lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen und lehne mich dagegen. Es ist mir schon fast gelungen, meine wildgewordenen Gedanken wieder zu bändigen und in ihre Käfige zu sperren.
Ich habe einfach zu viel Fantasie! Das muss es sein. Nicht gerade von der Art, die Halluzinationen heraufbeschwört. Nein, ich habe diese Menschen auf der Waldlichtung wirklich gesehen, ihre Gespräche belauscht. Daran kann es keinen Zweifel geben. Nur mit der Interpretation habe ich es wohl etwas übertrieben. Was ist schon groß passiert? Ein paar Leute sind in eine zugegebenermaßen etwas ungewöhnliche Rolle geschlüpft, die aber sehr gut zum heutigen Datum passt. Vielleicht ist das hier eine alljährliche Tradition? In anderen Orten veranstaltet man Passionsspiele, historische Feste oder Karnevalsumzüge. Und hier eben die Konferenz der Gestaltwandler. So what?!
„Ich werde Cleo oder Dougal bei Gelegenheit danach fragen“, murmele ich vor mich hin, während ich meine Schuhe abstreife und meine Jacke an die Garderobe hänge. Wenn ich angespannt bin, neige ich manchmal zu Selbstgesprächen. „Vielleicht lassen sie mich nächstes Jahr sogar mitmachen, wenn ich…“
„Wenn Du was?“
Dougals Stimme hinter meinem Rücken ist sanft, vielleicht ein wenig spöttisch. Jedenfalls alles andere als bedrohlich. Doch ich fühle mich, als habe er mir einen Dolch aus Eis zwischen die Schulterblätter gestoßen. Wie zum Teufel kommt er hierher? Noch dazu vor mir? Und was will er?
Wie erstarrt stehe ich da. Es kostet mich unendliche Kraft, auch nur den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Da lehnt er in meiner Schlafzimmertür, als habe er alles Recht der Welt dazu. Ohne Umhang, in ganz normalen Jeans und einem weichen, dunkelgrauen Wollpullover. Keine Spur von Rabenfedern.
Sein süffisantes, selbstsicheres Grinsen ist meine Rettung. Denn es macht mich wütend. „Sag mal, spinnst Du?!“, fahre ich ihn an. „Willst Du mich umbringen? Herzschlag an Halloween, stilecht serviert in den eigenen vier Wänden?“
Er wirkt tatsächlich ein wenig zerknirscht. „Tut mir Leid! Ich dachte, du bist nicht zu Hause. Ich bin zufällig vorbeigekommen und habe gesehen, dass dein Dachfester offen steht. Und da wir für die frühen Morgenstunden eine Unwetterwarnung haben, bin ich halt rein und hab es zugemacht. Die Haustür war nicht abgeschlossen.“
Nein, war sie nicht. Weil ich naives Schaf bis gestern dachte, das sei hier nicht nötig. Seine Ausrede ist mehr als dürftig, und er weiß es. Wortlos sehe ich ihn an. Aber was in seinen Augen schimmert, überrascht mich. Keine Provokation. Ein fast verzweifeltes Begehren, das er mühsam unter Kontrolle hält. Eine Frage, die irgendetwas tief in mir zum Schwingen bringt.
Ich hätte schwören können, dass es solche Momente nur in Filmen gibt. Diese atemlosen Sekunden, in denen Blicke eine ganze Geschichte erzählen. In denen Leidenschaften neu buchstabiert werden, ohne dass eine Silbe gesprochen würde. Dougals Augen scheinen mir dunkler als gewöhnlich. Beinahe schwarz. Die Luft zwischen uns flirrt vor unausgesprochenen Erwartungen. Bis sich die Spannung entlädt. Ich muss nur einen halben Schritt auf ihn zu machen, um den Bann zu brechen. Und die Gier zu entfesseln. Seine angespannten Züge weichen einem Lächeln voller Sinnlichkeit. Und die Kraft, mit der er mich packt, verspricht Bände.
... Fortsetzung folgt...
© Kea Ritter, Oktober 2023