Raven - Episode 2
Kapitel 3
Auch wenn es verdächtig wie ein Schluchzen klingt, muss ich tatsächlich ein wenig lachen. Das ist so typisch für meine Nachbarin! Im Grunde habe ich wirklich Glück, neben einer so einfühlsamen und hilfsbereiten Frau zu leben. Gestaltwandlerin hin oder her: Sie wäre jederzeit bereit, den Widrigkeiten des Lebens mit allem entgegenzutreten, was sie hat. Und wenn es ein Stück von ihrem zweifellos hervorragenden Schokoladenkuchen ist.
Ob der gegen sprießende Federn hilft, wage ich zwar zu bezweifeln. Aber ich kann es kaum erwarten, bis ich ihr Klopfen an der Haustür höre. Und als ich sie dann auf meiner Schwelle stehen sehe, in der Hand ein verführerisch duftendes Kuchenpaket, zerbröselt meine Zurückhaltung in kleine Krümel. Ich versuche gar nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten. Selten hat mir eine Umarmung so gut getan.
Es dauert eine Weile, bis ich mich halbwegs wieder beruhigt habe. Doch als wir schließlich mit frisch aufgebrühtem Tee und einem auf der Zunge schmelzenden Schokoladentraum vor dem Kamin sitzen, kann ich wieder normal atmen. Die Fragen stolpern allerdings nach wie vor ungeordnet durch meinen Kopf. Wo ich anfangen soll, weiß ich immer noch nicht.
Cleo sieht mich vorsichtig von der Seite an. „Dir geht’s beschissen, oder?“
„Das wäre noch geprahlt.“
Ihre bernsteinfarbenen Katzenaugen schimmern mitfühlend. „Wie fühlst du dich? Ich meine: körperlich?“
Ich zucke hilflos mit den Achseln. „Kann ich gar nicht genau sagen. Ich weiß nämlich nicht mal, was von meinen Symptomen wirklich real ist. Und was ich mir nur einbilde, weil ich mich ständig selbst belauere. Weiß du, was ich meine?“
Sie nickt. „Für dich ist es schwieriger als für jeden von uns. Wir sind so geboren, weißt du? Also sind wir daran gewöhnt, noch eine zweite Natur zu haben. Der Luchs ist ein Teil von mir, und ich hatte nie Grund, ihm zu misstrauen. Aber für dich muss es ja sein, als hätte irgendwas Fremdes die Kontrolle über dich übernommen.“
Besser hätte ich es nicht ausdrücken können. „Ganz genau! Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich damit klarkommen soll.“
Erst stockend, dann über meine eigenen Worte stolpernd, berichte ich ihr, was ich vorhin erlebt habe. Die erotischen Tagträume… die Glutströme… die Federchen…
Ich greife nach ihrer Hand. „Was bedeutet das alles?“, frage ich verzweifelt. „Wie soll ich damit leben? Kann ich das irgendwie… in geordnete Bahnen lenken?“ Schon lese ich in ihrem Gesicht, dass mich ihre Antwort enttäuschen wird.
„Leider kann ich dir das auch nicht sagen. Du wirst es ausprobieren müssen. Denn ich kenne sonst keinen Menschen, der die Verwandlung auf diese Art durchgemacht hat. Vielleicht gibt es heutzutage gar niemanden mehr. Wir waren ja nicht einmal sicher, ob es überhaupt funktionieren würde.“
„Ach! Aber trotzdem habt ihr es für richtig gehalten, mich diesem Experiment auszusetzen?“ Ich spüre die Wut in mir aufsteigen. „Ihr habt beschlossen, mich einfach mal nichtsahnend in eine neue Existenz zu werfen? Nur um mehr Macht zu bekommen über eure eigene Verwandlung? Zu so viel Skrupellosigkeit kann man euch wirklich nur beglückwünschen!“
Cleo scheint tatsächlich ein schlechtes Gewissen zu haben. „Es geht hier nicht nur um unsere Macht und unser Privatleben“, sagt sie leise.
„Sondern?“
Ein Schatten zieht über ihr Gesicht. „Es ist zu früh!“, wehrt sie ab. „Ich müsste dir zu viel erklären. Die ganze, lange Geschichte. Und dieses Wissen ist gefährlich. Du bist noch nicht bereit dafür. Ich werde dir alles erzählen, wenn du soweit bist, versprochen. Aber im Moment… kann ich dir nur mein Wort geben, dass es so ist. Kannst du mir so weit vertrauen?“
Will sie mich verarschen? Vertrauen… nach allem, was war? Ich mustere sie stirnrunzelnd. Doch in ihren Zügen sehe ich nichts als echtes Bedauern und… Besorgnis? Angst? Ich bekomme den Ausdruck nicht so recht zu fassen, bevor er wieder verschwindet. Aber seltsamerweise glaube ich ihr. Und ich bin auch keineswegs sicher, ob ich das alles überhaupt hören will. Im Moment habe ich jedenfalls andere Sorgen, als die Motive von Dougal und seinen Komplizen zu ergründen. Ich habe mehr als genug damit zu tun, mich mit den praktischen Konsequenzen ihrer unsäglichen Aktion zu beschäftigen.
„Gut“, knurre ich widerwillig. „Lassen wir das für den Moment. Aber Dougal hätte mich wenigstens vorwarnen können! Damit ich nicht vor meinem eigenen Spiegelbild zu Tode erschrecke.“
„Was hätte er denn sagen sollen?
Darf ich bitte mal in dein Bett und dich um ein paar Blutstropfen erleichtern, damit ich mich anschließend nach Belieben in einen Raben verwandeln kann? Es ist für den guten Zweck?“
Ich schnaube. „Wenn du es so ausdrückst…“
„Er konnte dich nicht einweihen, Julia! Alle historischen Quellen sagen, dass das Opfer nichts ahnen darf, bevor sein Blut fließt. Sonst funktioniert das alles nicht. Der Mensch bleibt nur ein Mensch. Und der Gestaltwandler ein Sklave des Vollmonds, der keine Macht über seine eigene Verwandlung hat.“
„Mir kommen die Tränen!“
Sie nickt traurig, ohne auf meinen Sarkasmus einzugehen. „Das sollten sie auch, Liebes! Dougal geht es nicht viel besser als dir, glaub mir.“
„Wieso das denn? Er hat doch, was er wollte.“
„Hat er das? Kannst du dir wirklich nicht vorstellen, was in ihm vorgeht?“
„Du meinst, der Herr hat ein schlechtes Gewissen? Das glaube ich wohl kaum! Er hat mir ja sogar geschrieben, dass es ihm nicht leidtut. Stand wortwörtlich so auf dem Zettel, den ich nach dieser dreimal verfluchten Nacht auf meinem Bett gefunden habe!“
„Willst Du ihm das vorwerfen? Der Rausch war noch nicht mal abgeklungen, als er das geschrieben hat. Und die Konsequenzen waren auch für ihn noch nicht absehbar. Für ihn ist es keine Strafe, ein Gestaltwandler zu sein, weißt du? Für mich übrigens auch nicht. Trotzdem hatte ich ihn gewarnt, dass du das möglicherweise anders sehen würdest. Aber er glaubte, das Risiko eingehen zu müssen. Weil es keinen anderen Weg gab.“
... Fortsetzung folgt...
© Kea Ritter, Januar 2024