Raven
PrologVerflixte Neugier! Noch immer habe ich keinen blassen Schimmer, was meine neuen Nachbarn im Schilde führen. Aber vielleicht ist heute ja die Nacht, in der ich alles erfahren werde. Oder in der ich zumindest einen Zipfel der Wahrheit zu fassen bekomme. Das würde mir sogar schon genügen. Der Termin ist perfekt: Halloween, Samhain, wie immer man es nennen mag. Eine Nacht, in der die Schleier zwischen den Welten dünn werden. Und Verborgenes aus den Schatten tritt.
Ich muss selbst ein wenig lachen über die theatralischen Formulierungen, die durch meine Gedanken tanzen. Mythen und Magie können mich zwar durchaus fesseln und meine Fantasie anregen. Aber sie sind eben eine Sache für Bücher und Geschichten. Nicht für die Realität. Ich glaube nicht ernsthaft daran, dass Cleo von nebenan oder Sarah aus der alten Schule gerade unterwegs sind, um irgendwelchen obskuren Riten zu frönen. Und Linda aus dem Nachbardorf mag zwar eine biestige alte Hexe sein, aber bei ihr ist das eher eine Frage des Charakters als der Zauberkräfte. Falls sie nachher nackt über ein Feuer springt oder dergleichen, möchte ich das nicht unbedingt miterleben. Obwohl: Falls Dougal irgendwie involviert sein sollte, sieht die Sache natürlich anders aus.
Der Kerl besitzt nicht nur ein zauberhaftes Haus unten am Fluss, sondern auch eine geradezu verbotene Ausstrahlung. Sogar, wenn er einfach nur auf einem Ast hockt und mit den Beinen baumelt. Glaubt mir, ich kann das beurteilen! Denn genau in dieser Position habe ich ihn zum ersten Mal gesehen. Das war vor ein paar Monaten, kurz nachdem ich hierher gezogen bin. Ich hatte damals schon gemerkt, dass in dem kleinen Dorf ein recht vertraulicher Umgang herrscht und man auf Formalitäten nicht viel Wert legt. Spontane Besuche unter Nachbarn sind hier durchaus üblich. Trotzdem war ich nicht darauf gefasst, nach einer samstäglichen Einkaufstour einen gutaussehenden Fremden in meinem Kirschbaum vorzufinden.
Er deutete meine hochgezogenen Augenbrauen ganz richtig, spuckte einen Kirschkern ins Gras und grinste. „Kann ich nur empfehlen“, sagte er und deutete lässig auf die prall roten Früchte. „Als das Haus letztes Jahr leer stand, bin ich deswegen mehrfach über den Zaun geklettert. Aber diesmal stand das Tor offen, also war das glücklicherweise nicht nötig. Man wird ja nicht jünger.“ Damit stieß er sich von seinem Ast ab und landete mit einem eleganten Satz vor meinen Füßen.
„Stets zu Diensten“, erwiderte ich trocken. „Man tut, was man kann, um seinen gebrechlichen Mitbürgern unter die Arme zu greifen.“
In seinen Mundwinkeln zuckte es. „Ich komme darauf zurück!“, versprach er. So ein einfacher Satz, und doch ließ er mir eine Gänsehaut über den Rücken rieseln. Denn da war etwas in seiner Stimme, das unser harmloses Geplänkel Lügen strafte. Es klang wie ein nachtschwarzes Versprechen. Passend zu seinem Namen. Ich habe inzwischen im Internet nachgesehen und herausgefunden, dass er aus Schottland kommt und so viel wie „dunkler Fremder“ bedeutet. Wie überaus passend!
Ich lächele vor mich hin, als ich dem Weg Richtung Wald folge. Cleo eilt flotten Schrittes vor mir her. Ich muss genügend Abstand halten, damit sie mich nicht bemerkt. Zum Glück scheint sie es so eilig zu haben, dass sie nicht groß auf ihre Umgebung achtet. Was mag sie vorhaben? Wo will sie hin? Und vor allem: Wer wird noch dort sein? Diese Fragen nagen mit scharfen Rattenzähnen an meinen Gedanken. Und ich muss zugeben: Es ist nicht nur die Neugier, die mich plagt. Ich bin auch ein bisschen beleidigt.
Eigentlich wollte ich das halbe Dorf zu einer Halloween Party in mein neues, frisch renoviertes Haus einladen. Es sollte eine Art Einstand für die Nachbarn werden. Eine Gelegenheit, neue Bekanntschaften zu schließen und die schon bestehenden zu vertiefen. Doch die Idee ist kläglich im Sande verlaufen. Ich habe Cleo, Dougal und Sarah angesprochen, dazu noch ein halbes Dutzend andere Leute. Doch die Reaktionen waren seltsam: Ausweichende Blicke, Entschuldigungen, die verdächtig nach Ausreden klangen. Offenbar ist niemand scharf darauf, diesen Abend mit mir zu verbringen. Dabei sind all diese Menschen mir, der Neuen in ihrer Mitte, bis jetzt ausgesprochen freundlich und offen begegnet. Haben sie etwas Besseres vor? Etwas, von dem ich nichts wissen soll? Genau das gilt es nun herauszufinden.
... Fortsetzung folgt...
© Kea Ritter, Oktober 2023