Es gibt mittlerweile sehr gute, aber auch negative Entwicklung, dazu gefühlte Realitäten, die zu Bias-Problemen führen, selbstgemachte Probleme und Probleme, die eigentlich keine sind.
Das ganze Thema ist unfassbar vielschichtig, weshalb ich das Gefühl habe dazu gleich mehrere DinA4-Seiten verfassen zu können.
Meine grundsätzliche Beobachtung, basierend auf annekdotischen Evidenzen
Grundsätzlich: Stabil ist, was Stabilität möchte
Grundsätzlich kenne ich nicht wenige absolut stabile Beziehungen, sowohl unter Vanilla-Freunden, als auch BDSMlern.
Diese Menschen sind auf solchen Plattformen mit ganz anderen Motiven unterwegs, weil sie eben nicht auf der Suche nach einer Beziehung oder einer Neigungspartnerschaft sind. Die haben sie ja schon.
Wenn ich diese Menschen frage wie sie sich kennenlernten, dann ist die Antwort nicht selten, dass es Zufall war, bzw. man sich eben nicht aus reinem Neigungskontext kennenlernte. Natürlich gibt es auch Menschen, die sich zunächst über eine "Neigungspassgenauigkeit" kennenlernten, woraus sich dann mehr entwickelte. Das kann absolut passieren. Meiner subjektiven Wahrnehmung nach ist das aber seltener.
Wie ich oben schon schrieb ist das nur meine Wahrnehmung und erhebt keinen Anspruch darauf allgemeingültig zu sein. Mich würden wirkliche Studien dazu sehr interessieren. Die Frage wäre dabei: Mit welchen Grundintentionen lernten sich Menschen eigentlich wie kennen?
Neigungspartnerschaften und Beziehungen
Plattformen wie Joy verleiten schnell dazu "Neigungspartnerschaften" zu suchen.
Wir suchen dann plötzlich keinen ganzheitlichen Menschen, sondern jemanden, dessen Neigungen mit den unseren übereinstimmen. Das ist per se nicht schlimm, wenn man weiß was man da tut.
Für mich haben sich dabei in den letzten Jahren zwei herangehensweisen entwickelt, die ich beobachte und von denen ich eine als für mich unpassend verwarf:
1. Wir wollen uns ausleben und schauen zunächst auf Neigungspassgenauigkeit.
Dabei gucken wir durch die Profile und gründen unsere Suche, sowie den Kennenlernprozess zu einem Menschen auf eben diese Neigungspassgenauigkeit.
Beispiel:
"Ich suche eine devote Masochistin, die Shibari mag, gerne auf Partys geht, auf Shameplay und etwas Degrading steht, am besten noch Natursekt mag und Wifesharingkinks teilt."
Mit den Suchkriterien wird nun losgelaufen. Danach schauen wir und natürlich wollen wir, dass die Kinks am besten zueinander passen. Wir sehen schließlich wie gut das Kinkleben bei anderen funktioniert. Das erzeugt inneren Druck. (Stichwort: Schöne heile Onlinewelt, in denen wir uns stets im besten Licht präsentieren. Das passiert auf allen asozialen Netzwerken, so auch hier, wo dies doch im Kern vor allem eine Partnersuch-Plattform mit vielen + ist).
Die ersten Selektionskriterien sind plötzlich die oben genannten. Wenn wir dann einen Menschen kennenlernen wird die Frage, ob dieser Mensch zu uns passt, vorrangig anhand der Neigungen beantwortet. Das mag dann in der Euphorie-Phase des Kennenlernens auch absolut reichen, weil man sich primär auf das Ausleben der Neigungen stürzt.
Das mag für eine stabile Neigungspartnerschaft wie eine D/s-Partnerschaft ohne Alltag, Playpartnerschaft, Fesselpartnerschaft oder eine Freundschaft+, wobei "Freunde" bei vielen schon zu Recht sehr eng gefasst wird, reichen, jedoch nicht für eine romantische Alltagsbeziehung, die eben auch alle anderen Facetten des gemeinsamen Lebens umfasst.
Sobald sich dann genau dieser Alltag in die frische Beziehung mischt und man den anderen Menschen auch jenseits seiner Kinks, seiner Neigungspassgenauigkeit, "ertragen" muss, knallt es plötzlich und man bemerkt, dass man eigentlich gar nicht zusammen passt.
Schlussendlich scheitert die Beziehung.
Das habe ich bei Freunden und Bekannten in den letzten Jahren immer wieder erlebt. Es passierte auch mir ein paar Mal.
Erst die Beziehung, dann die Neigung
Hier muss ich vorranstellen, dass eine Beziehung nicht funktionieren kann, wenn es keine Neigungsschnittmengen gibt, außer man geht von vornherein in eine offene Beziehung.
Ich könnte keine Beziehung mit einem Menschen führen mit dem ich sexuell so gar nicht matche. Gleichzeitig weiß ich, dass kein Mensch alle sexuellen Bedürfnisse für den Rest unseres Lebens wird mitgehen können, so wie ich für mich nicht in Anspruch nehme jeden Kink bedienen zu können.
Es ist ein anderer Weg zu sagen, dass man zunächst den Menschen sucht und die menschliche Passgenauigkeit anstelle der absoluten Neigungskompatibilität in den Fokus rückt. Dabei möchte ich noch einmal betonen, dass es mit nicht darum geht zu sagen, dass die Neigungen nicht grundlegend übereinstimmen müssen, noch will ich ausdrücken, dass man das sexuelle in den Hintergrund rückt.
Wenn ich eine Beziehung eingehe, dann ist es mir über die Jahre jedoch sehr wichtig geworden ein festes Beziehungsfundament zu gießen, dass sich nicht primär auf der Neigungsebene gründet, sondern darauf, dass wir uns vorrangig jenseits der Neigungen, als Menschen, füreinander entscheiden.
Das ist dann natürlich nichts für reine Playpartnerschaften, Freundschaften+, D/s ohne Alltag oder reine Fesselpartnerschaften.
Ich habe lange Jahre lieber nur sehr lose überhaupt irgendetwas im Neigungsspektrum mit Menschen gemacht, als erneut den für mich subjektiv unpassenden Weg über die Neigungen in Beziehungen einzuschlagen. Zudem habe ich nicht gesucht, weil ich mir selbst genüge. Vielmehr hat meine aktuelle Partnerin mich entdeckt, angesprochen und wir schauten was daraus wird. Das erste mal etwas sexuelles passierte bei uns 1,5 Monate nach dem ersten Date, ohne dass ich es bewusst aufgeschoben hätte. Wir hatten uns einfach unglaublich viel zu erzählen, haben uns aufeinander eingestimmt und eine menschliche Basis gefunden aus der dann alles andere erwuchs. Und das was erwuchs ist unglaublich erfüllend und vielschichtig, ebenso vielschichtig wie unsere Beziehung insgesamt.
Problemfeld: Toxischer Positivismus
Ein Grund warum ich Beziehungen in meinem Umfeld nicht selten scheitern sehe ist toxischer Positivismus. Ihr kennt das, diese Instagrambildchen mit "lasse alles negative los" und "wenn es dich nicht nährt, dann lass es gehen".
Dieser Unsinn sagt uns, dass alles was nicht perfekt ist losgelassen werden soll. Am Ende sei damit alles "nicht echt" und "für dich schädlich", was Mühe kostet, vielleicht auch mal schmerzt und was arbeitet bedeutet.
Liebe ist jedoch arbeit. Sie ist Reibung. Sie ist nicht dieses perfekte Disney-Konstrukt, nach dem man sich in "den Richtigen" Schockverliebt und für den Rest des Lebens läuft alles komplett ohne Konflikte. Jemanden zu lieben und eine Beziehung mit diesem Menschen zu führen bedeutet ebenso die Akzeptanz von Unterschieden und das Versprechen nicht gleich Reisaus zu nehmen, wenn man Dinge klären muss und wenn man sich mal nicht "perfekt harmonisch" fühlt. Es bedeutet Konflikte zu klären, miteinander zu sprechen, sich immer wieder neu kennenzulernen, sich auch dazu zu entscheiden Krisen gemeinsam meistern zu wollen.
Das Internet spielt uns allen die Illusion von Perfektionismus vor. Alle haben die perfekte Liebe, die perfekte Beziehung, die perfekte Wohnung, den perfekten Job, den perfekten Urlaub, den perfekten Schwanz, die perfekten Titten, den perfekten Sex: Das perfekte Leben. Das hat jedoch niemand, dennoch streben wir alle danach, was dazu führt, dass viele diese Scheinrealität für voll nehmen und ob des eigenen Lebens frustriert sind. Wie die Ärzte es schon besangen: "Wo sind all die schönen Dinge, die die Werbung jedem Einzelnen von uns versprochen hat?"
Problemfeld: Kapitalismus
Dazu passt wunderbar der Kapitalismus und sein Weltbild des ewigen Wachstums und des Konsums. Mir geht es hier nicht um eine grundsätzliche politische Kapitalismuskritik. Das würde das Thema sprengen, hätte mit ihm nichts zutun und würde gegen die Joyregeln verstoßen.
Dennoch beschreibt schon Erich Fromm in "Die Kunst des Liebens" die Dystopie, in der die Liebe zu einer Ware wird. Er beschreibt wie es wäre, wenn Menschen Partner aus quasi marktwirtschaftlichen Interessen selektieren. Welche Partnerin bringt mir gegenüber meinem Umfeld den besten Mehrwert? Wer sieht am besten an meiner Seite aus? Wer "bringt" mir am meisten.
Mittlerweile werten Menschen alles mögliche so wie sie Ware bewerten und selektieren:
Nach Kosten-Nutzen-Faktor. Siehe den "Beipackzettel", beziehungsweise die "Produktbeschreibungen" in Form unserer Profile und unserer Neigungslisten.
Die sind an sich nicht das Problem, sondern nur ein Symptom. Das Problem ist, dass wir durch Plattformen wie Joy auf dieselbe Weise und mit demselben Mindset laufen, wie wir es bei Edeka tun, wenn wir eine neue Haarkur suchen, beziehungsweise durch den Alternate-Onlinekatalog, wenn wir einen neuen Rechner kaufen wollen. Wir klicken an, schauen uns die Kundenbewertungen an, begutachten die Bilder und scrollen durch die Produktbeschreibung. Bei Alternate ist das Produkt der nächste Gaming-PC, in Joy ist es der nächste Fickpartner.
Solange man damit zufrieden ist auf dieser Basis und auf diese Art und Weise zu suchen und sich gegenseitig temporär zu benutzen ist das alles fein. Frustrierend wird es, wenn man bemerkt, dass man diese Art für sich nicht möchte.
Eigenverantwortung: Ausbrechen und sich anders verhalten
Hier kickt dann die Eigenverantwortung.
Die Definition von Wahnsinn ist es, immer dasselbe zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.
Wenn ich immer wieder nach denselben Kriterien suche (Neigungspassgenauigkeit als Fokus) und immer wieder nur temporäre Neigungspartnerschaften finde, die keine Verbindlichkeiten wollen, dann darf ich mich nach dem 11ten mal nicht wundern, wenn das 12te mal genauso abläuft.
Entweder kommuniziert man seine Bedürfnisse dann nicht richtig, oder man setzt das für sich unpassende Suchschema, bzw. Kennenlernschema an.
Ich habe deshalb vor Jahren für mich, wie oben bereits erwähnt, beschlossen mich auf keine reinen "Neigungsgesuche" mehr einzulassen, wenn vorher nicht viel anderes ebenso passt.
Das Positive: Weniger Abhängigkeiten
Am Ende möchte ich aber auch einen sehr positiven Aspekt unserer Zeit hervorheben:
Menschen können heute viel freier wählen ob sie
A) eine Beziehung wollen und
B) ob sie in dieser auch zu bleiben gedenken.
Gerade Frauen haben es in diesem Bezug viel viel viel leichter als nahezu alle Vorgängergenerationen seit immer.
Frauen müssen nicht per se mit sozialer Ächtung und Armut rechnen, wenn sie sich trennen. Sie haben die Möglichkeit sich genauso frei auszuleben, wie Männer es eigentlich schon immer konnten.
Wann immer also Phrasen gedroschen werden wie
"Die Ehen unserer Groß- und Urgroßeltern haben noch ein Leben lang gehalten" sollte man im Hinterkopf behalten, dass beispielsweise meine Großmutter noch eine Zeit kannte, in der sie gar nicht ohne Erlaubnis ihres "Ehegatten" arbeiten durfte. Meine Urgroßmutter kannte eine Zeit in der sie noch nicht wählen durfte. Meine Mutter durfte in der Ehe noch vergewaltigt werden und bekam "Taschengeld" von meinem Vater.
Diese Vergangenheiten sollte man nicht leichtfertig romantisieren. Es hatte Gründe, warum Paare bis ans Lebensende hielten und die sind nicht immer romantischer Natur.