Der Weihnachtszug
Aufgeregt bin ich. Weite Reisen sind inzwischen ungewohnt für mich, und weit fängt bei hundert Kilometer schon an. Ganz besonders, wenn ich nicht selber das Steuer in der Hand habe.Nun geht es also mit dem ICE von Köln nach Karlsruhe. Ich bin eine halbe Stunde vor der Zeit bereits am Bahnsteig - als ob ein Zug zu früh kommen würde … Angezeigt ist eine Verspätung von vierzehn Minuten. Ich bin gespannt. Beobachte die anderen Fahrgäste. Der Bahnsteig ist recht voll und ich presse meine Handtasche fest an mich.
Die meisten Leute haben eine Menge Gepäck dabei, schwatzen in den unterschiedlichsten Sprachen miteinander. Tragen die buntesten Kopfbedeckungen. Schimpfen, lachen, rufen.
Ich frage mich, was wohl in den Koffern ist. Klamotten? Geschenke? Fahren sie in Urlaub oder zur weit entfernten Familie - so wie ich?
Mir ist schlecht vor Aufregung. Ich habe Hunger. Sehe ein Pärchen, das sich liebevoll eine Laugenstange teilt.
Die voraussichtliche Verspätung meines Zuges hat sich auf acht Minuten reduziert. Vorher sollen aber noch zwei andere ICEs Reisende in andere Richtungen mitnehmen. Ich studiere auf der Anzeigetafel die Wagenzusammenstellung. Der erste Schnellzug fährt ein, bringt eine Windböe mit sich. Piepend öffnen sich die Türen, einige Menschen steigen aus, viele drängen sich hinein mit ihren rollenbewehrten Schalenkoffern. Der Bahnsteig leert sich. Schon hört man wieder den Pfiff des Schaffners, die Luken schließen sich und der Zug nimmt Anlauf für die Weiterfahrt.
Mittlerweile hat mein Zug aufgeholt. Nicht nur aufgeholt, sondern sogar überholt. Er gleitet nämlich pünktlich in den Bahnhof, wohingegen sein eigentlicher Vorgänger Verspätung hat.
Nervös suche ich die Wagennummerierung. Mein reservierter Platz befindet sich in Wagen Sechs. Den kleinen roten Trolley platziere ich in der Gepäckablage. Beunruhigt sehe ich, dass genau derselbe Koffer danebenliegt. An meinem ist ein blaues Schleifchen am Griff. Nicht zu übersehen, denke ich und nehme den Fensterplatz in Fahrtrichtung ein.
Fensterplatz - jawohl! Ich will mir ja die Landschaft anschauen und eventuell Fotos machen, was mir sonst als Selbstfahrer verwehrt ist. Und schon setzt sich der Bahnsteig in Bewegung. Nein - natürlich nicht der Bahnsteig. Es scheint nur so. Immer schneller fliegen die Masten, Gebäude und Bäume vorbei. Das Wetter ist trüb und die Aussicht wie ein schlechter Schwarzweißfilm. Frustriert beobachte ich ein schmales, von der Geschwindigkeit in die Horizontale gezwungenes Rinnsal auf dem Fenster. Eilig scheinen sich die Tropfen gegenseitig anzutreiben.
Ich zucke mit den Schultern und hole meine neuen geräuschabsorbierenden Kopfhörer aus dem Rucksack. Mit der richtigen Musik lässt sich dieser Film besser ertragen. Denke ich und sehe eine Ente mit ihrem Küken über den Gang watscheln. Ich unterdrücke das Lachen. Es ist keine Ente. Es ist eine schwangere Frau, die eine Atemschutzmaske in Schnabelform trägt und ihr vielleicht einjähriges Kind im Schneeanzug an zwei Händen vor sich herführt.
Ich verdrehe die Augen und schließe sie lieber. Was bin ich froh, dass meine Kinder schon groß sind. In diesem Fall betüddeln sie ja eher mich, indem sie mir eine abwechslungsreiche Playlist für die Reise zusammengestellt haben. Entspannt lasse ich mich in die Musik fallen. Die anderen Fahrgäste höre ich kaum noch, das sanfte Schaukeln des Zugs tut sein Übriges. Ich schlafe ein.
Nach gefühlt fünf Minuten legt sich eine Hand auf meine Schulter und rüttelt leicht daran. Ich öffne die Augen. Nein, es ist weder das Christkind noch der Weihnachtsmann. Auch nicht Knecht Ruprecht oder der Krampus. Nur langsam sickern die Worte zu meinem Bewusstsein hindurch, die der leicht amüsiert verzogene Mund des Bahnmitarbeiters ausstößt: “Madame, dieser Zug endet hier.”
Leicht erschrocken springe ich auf und murmle eine Entschuldigung. Ich schlüpfe rasch in meinen Mantel und werfe den Rucksack über die Schulter. Der Waggon ist bereits menschenleer. Ich schnappe mir meinen kleinen, roten Koffer und eile zum Ausgang.
Ein Blick auf die allgegenwärtigen Uhren im Karlsruher Bahnhof verrät mir, dass ich noch zwei Minuten habe, um den Anschlusszug zu erreichen. Ich nehme also die Beine in die Hand, werfe mich ins Gewühl auf der Rolltreppe nach unten. Dränge mich hindurch, stoße mich an fremden Koffern, so wie ich sicherlich auch Fremde mit meinem Koffer stoße.
Ich renne so schnell ich kann durch den Tunnel. Entsetzt erkenne ich, dass es an diesem Bahnsteig keine Rolltreppe gibt. Japsend stelle ich mich der Herausforderung und erklimme die Treppe. Meine Muskeln protestieren, meine Lunge kämpft. Ich muss dringend mehr Sport machen, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit.
Mit letzter Kraft quetsche ich mich in den Zug, bevor der wohlbekannte Pfiff ertönt und die Türen schließen. Schwer atmend stehe ich zwischen anderen Reisenden. Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. Ich will den Mantel ausziehen, was aber in diesem Gedränge unmöglich ist. Stoisch ertrage ich es, so wie auch meine Mitreisenden, die im Gang oder zwischen den Abteilen stehen.
Ich versuche die Gesichter der Fahrgäste zu entziffern, besonders derjenigen, die einen Sitzplatz ergattert haben. Ist das Desinteresse? Mitgefühl? Häme? Verschämtes Ignorieren des Unwohlseins anderer?
In Rastatt steigen einige aus, und ich habe mehr Bewegungsfreiheit. Mit dem Trolley in der Hand kämpfe ich mich durch zum Oberdeck des Regionalexpress. Viele Reisende haben die Stufen als Sitzplatz auserkoren. Freundlich lassen sie mich vorbei.
Ich habe noch zwei Stunden Fahrt vor mir und hoffe, etwas besseres als schmutzige Stufen zu finden. Ich finde es tatsächlich. Tatsächlich? Fatalistisch fege ich die Kekskrümel von dem einzigen freien Sitzplatz und setze mich zu der jungen Frau mit zwei kleinen Kindern. Irgendwann kommen wir ins Gespräch und sie stellt sich als sehr nett heraus. Bald muss sie jedoch aussteigen, da ihre Reise nach Freiburg geht.
Der Zug fährt weiter in den Schwarzwald hinein und wird mit jeder Station leerer. Manchmal kann ich sogar Landschaft sehen, wenn wir nicht gerade durch einen der unzähligen Tunnel zuckeln. Auf einmal vergehen die Minuten immer rascher. Die ersten Gebäude meiner Heimatstadt fliegen immer langsamer am Fenster vorbei, und ich bereite mich auf den Ausstieg vor.
Meine Eltern stehen schon erwartungsvoll am Bahnhof und winken mir freudig zu. Plötzlich fühle ich mich wieder Kind. Für einen kurzen Augenblick. Ich umarme die beiden herzlich. Ist es wirklich schon wieder ein Jahr her? Fast erwarte ich, dass sie so etwas sagen wie: “Bist du aber gewachsen!”
Ja, in die Breite, denke ich.
Mein Vater als ewiger Gentleman nimmt mir den Koffer ab, und ich hänge mich bei meiner Mutter ein. Sie ist etwas wackelig auf den Beinen.
Wir fahren erstmal zum neuen Griechen. Ja, stimmt - ich habe Hunger. Wir bestellen und schwaaten und essen und lachen und trinken und schwaaten.
Auf, auf! Wir müssen noch einkaufen! Auch das wird erledigt. Wir wollen schließlich nicht darben während der Feiertage!
Als wir endlich im Haus meiner Eltern ankommen, bringen wir gemeinsam das Gepäck und die Einkäufe hinein. Ich helfe meiner Mutter beim Sortieren der Salate und Soßen. Die Zeit vergeht so schnell. Hunger haben wir nicht, aber wir spüren Lust auf Kaffee und - Plätzchen! Für ein Plätzchen oder zwei ist immer Platz! Ich bin gespannt, was meine Mutter diesmal im Backofen gezaubert hat, und decke den Tisch.
Mein Vater führt mir die Lichterketten vor, die sowohl draußen und drinnen eine festliche Stimmung aufkommen lassen. “Warte ab, bis es richtig dunkel ist”, sagt er verheißungsvoll.
Meine Mutter trägt feierlich die Schale mit ihren Köstlichkeiten herein.
“Ooo - Vanillekipferl!”, rufe ich aus. Diese duftenden Halbmonde schmelzen förmlich auf der Zunge. “Und Nussecken!” Ich nehme ihr die Schale ab und schnuppere genüsslich daran.
“Die Zimtsterne habe ich heuer nach einem neuen Rezept gemacht. Ich bin gespannt, was du dazu sagst.” Sie deutet auf die weiß überzogenen Kekse.
Ich kann es nicht erwarten und stecke mir schnell einen in den Mund. “Mmmh”, nuschle ich. “Die sind ja ganz weich!”
Mein Vater schenkt schmunzelnd den Kaffee ein. “Immer noch das Leckermäulchen wie eh und je.”
Ich zucke mit den Schultern und nehme mir einen zweiten Stern. Wir tauschen weiter Neuigkeiten aus und schwelgen in Erinnerungen. Irgendwie ist das schon ein Ritual am Vorweihnachtstag.
Das Kaffeekeksgelage geht fast nahtlos über in ein Weinkäsebrotgelage. Irgendwann fängt der erste von uns an zu gähnen. Das ist ansteckend. Wir beschließen, aufzuräumen und schlafenzugehen. Mit einem Kuss auf die Wange entlassen mich die Eltern ins Gästezimmer.
Dort liegt mein roter Trolley auf einem kleinen Tischchen. Ich öffne ihn, um an den Pyjama und den Kulturbeutel zu gelangen.
Aber … was ist das?
Die Kinnlade fällt mir herab und mein Hirn versucht zu verstehen, was die Augen sehen.
Kein Schlafanzug, kein Kulturbeutel, keine Wechselklamotten. Geschweige denn das neue Kleid, das ich meinen Eltern an Heiligabend vorführen wollte.
Stattdessen glänzende, schwarze Schachteln in unterschiedlicher Größe. Bunte Bilder deuten an, was sich darin befindet.
Ein Grinsen macht sich breit. Das neue Kleid ist vergessen.
Ich lache und ergreife das Paket, auf dem ein violettfarbener Phallus mit Edelstahlgriff abgebildet ist. Als nächstes ein kleineres, das ein silbernes Ei zeigt. Plüschummantelte Handschellen. Ich kann nicht aufhören zu kichern. Mir scheint, da kam jemand von einer Dildoparty oder war auf dem Weg dorthin.
Ein Blick auf den Koffergriff bestätigt meine Vermutung: Weit und breit keine blaue Schleife!
Lachend lasse ich mich auf das Bett fallen.
Was für eine Bescherung!
Copyright by Regina_clara, 24.12.2023