Das Adlerweib und der Horst
Das Adlerweib lässt den Blick der scharfen Augen schweifen. Sie sitzt auf dem Aussichtspunkt, der ihr mittlerweile der liebste geworden ist - ein Felsvorsprung an einer Steilwand über weitläufigen Feuchtgebieten und Weiden.Hier ist sie im Rücken geschützt und kann auch mal in aller Seelenruhe ein Nickerchen halten. Die aufsteigende warme Luft ist zuverlässig und trägt sie sicher, wenn sie sich von der Kante in die Tiefe fallen lässt. Mit weit gespreizten Flügeln gleitet sie dann über die Weiten ihres Reviers, missachtet oder verschiebt nur allzu gerne dessen Grenzen, die in der Luft ohnehin eher emotionaler Natur sind.
Aber sucht sie nach Beute? Das Adlerweib schüttelt den Kopf. Sie ist eine gute Jägerin und schlägt der Beute genug. Übersatt ist sie sogar und überlässt die Reste nur zu oft einem altersschwachen Fuchs, der das Revier mit ihr teilt. Fräße sie alles selbst, würde sie zu schwer und ihre Wendigkeit einbüßen, die einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an der Erfolgsquote auf der Jagd ausmacht. Sie reißt der Beute nurmehr den Leib auf und labt sich am pulsierenden Herzen.
Dennoch ist die Jagd ihre Leidenschaft. Eine Leidenschaft, an der sie jemanden teilhaben lassen will. Einen Adlermann am besten, denn der Fuchs lebt nur deshalb noch, weil er zu leichte Beute ist. Ja - ein Adlermann. Einer, der weiß, wie es ist, mit den Aufwinden zu spielen und die Wolken zu berühren. Wie ein Stein vom Himmel zu stürzen, die messerscharfen Klauen in frisches Fleisch zu schlagen und den edlen Schnabel in das blutige Zucken zu graben. Leben in sich aufnehmen und Lust am Erfolg empfinden. Durch kräftige Flügelschläge mit der schweren Last vom Erdboden lösen, um sie an einem sicheren Platz zu verspeisen.
Genau da liegt der Knackpunkt - das Adlerweib hat Erfolg und einen sicheren Platz, aber sie ist damit allein. Sie sehnt sich nach einem ebenbürtigen Kumpan, dem sie ihre Jagderlebnisse schildern und am besten die Beute gemeinsam verzehren kann. Sie sucht keinen Begatter, keinen Vater für ungelegte Eier.
Sie sieht sich um und reckt die Flügel. Der Felsvorsprung böte genug Raum für einen Adlerhorst. Das Revier genug Beute für zwei.
Sie atmet tief durch. Der alte Fuchs würde des Hungers sterben, während sie sich mit dem Adlermann über die Opfer und deren Geschichten hermacht. Ohne Futterneid und voller Appetit.
Copyright by Regina_clara, Mai 2024