Mutsch
Meine Mutsch hatte mit Vier in den letzten Kriegstagen einen Granatsplitter in die Wange abbekommen. Ich weiß das von Oma. Mutsch selbst erinnert sich nicht mehr daran, Oma aber träumte bis zuletzt davon.Mutsch liebt die Musik von Elvis Presley, Bill Haley und Jerry Lee Lewis. Bei Familienfeiern ist sie heute noch eine der ersten, die tanzt. Von ihrem Lehrgeld sparte sie sich ein Sportmotorboot zusammen. Die Havel und der Wannsee waren ihr Revier. Sie behielt es, bis ich als ihr Erster geboren wurde. Es gibt ein Babyfoto von mir und Mutsch und dem Boot, danach verkaufte sie es.
Für meine Mutter hatten, nein haben Kinder immer Vorrang. Niemals verlor sie die Geduld, niemals rutschte ihr die Hand aus, niemals wurde ein Stubenarrest verhängt. Unser Nachbar M., ein Witwer mit drei Kindern, der im Suff schon mal Dresche verteilte, hatte vor niemandem Angst außer vor meiner Mutter. Sie ging mehrmals dazwischen und holte seine Kinder aus der Wohnung zu uns, um kurz darauf ihm einen Besuch unter vier Augen abzustatten.
Mein Mutter konnte Fußball spielen, kann sie vielleicht heute noch und sie konnte angeln. Vor allen Dingen konnte sie auch Angeln zusammenbauen. Ich kenne sie nur in Jeans und Sportschuhen, sie wird sich nie ändern. Vier Kinder hat sie großgezogen und viele mehr mitbegleitet.
Gestern machte ich mit ihr einen Ausflug. Wir fuhren raus ans Wasser und kehrten dann ein. Meine Kinder waren dabei und auch deren Mutter, von der ich seit 14 Jahren getrennt bin. Ihr Abschied aus unserer Familie, der sehr konfliktträchtig war, hatte damals meiner Mutter sehr wehgetan. Trotzdem hat sie nie ein böses Wort über ihre Schwiegertochter verloren, weil sie deren eigene Familiengeschichte kennt. Ich bin froh, dass das zwischen beiden Frauen einigermaßen gut ist, auch weil es für meine Kinder so wichtig ist.
Nach dem Ausflug gestern gab es bei Mutsch Kaffee und Kuchen. Irgendwann saßen wir beide dann auf dem Balkon, tranken noch mehr Kaffee, rauchten und quatschten. Ich bin der, den sie von ihren Kindern am wenigsten sieht. Alle zwei Monate mal, würde ich sagen. Dafür telefonieren wir wöchentlich. Ich bin der einzige Sohn, ich glaube aber, ich bin der von uns Kindern, der am meisten nach unserer Mutter kommt.
m.brody
2024