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Was ich außerdem schwierig finde ist:
das Gegenüber hat praktisch keine Chance, es nicht wichtig zu finden.
Vielleicht kann ich das an einem Beispiel erklären:
Ich war vor Jahren über eine andere Plattform mit jemandem verabredet, der in einer weit entfernten Stadt lebte- es wäre auch aus anderen Gründen, also nichts längerfristiges drin gewesen oder von beiden gewollt gewesen.
Im Laufe des Schreibens teilte er mir mit, dass er mir etwas sehr Wichtiges mitteilen müsse. Er sei zwar seit Jahren symptomfrei, litte aber an Neurodermitis.
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das bringt auf den Punkt, was ich bisher nur so als gefühlsmäßige Irritation erlebt habe. wenn wir jemanden neu kennenlernen, zählt jede Kommunikation für mich im besonderen Maße auch als Selbstoffenbarung. ich kann gar nicht anders, als zu versuchen, alles zu verstehen und zu verarbeiten. darum ist es für mich schnell schwierig, wenn das Gegenüber mir zu viel anscheinend Gravierendes von sich erzählt, weil ich das alles unmöglich verinnerlichen kann und auch kein Gefühl dafür entwickeln. wenigstens nicht hier in der Virtualität.
im echten Leben schnurrt ne lange Rede durch Sympathie und Hingezogenheit noch eher zu einem "sie vertraut mir und will sich mir anvertrauen" zusammen. also ner grundsätzlich positiven Wahrnehmung der Situation - aber da habe ich auch die physische Präsenz des Anderen und kann mich daran festhalten im Strudel der Irritation.
in der Virtualität fehlt dieser Aspekt des Kontakts natürlich und ich kann zwar auch ein Gefühl fürs Gegenüber entwickeln, aber das dauert einfach länger, weil ich erst mal viel weniger habe, womit ich wirklich arbeiten kann.
es ergibt sich mehr aus dem Kontakt, dem Gespräch, was einerseits schön ist, andererseits ist es darauf auch angewiesen, wodurch die Bedeutung sprachlicher Vermittlung steigt.
und wenn mir jemand was von einer Diagnose erzählt, frage ich mich automatisch, was ich damit jetzt anfangen soll. schon klar, meistens gar nichts. das ist generell wohl eher als lobenswerte Offenheit im Kontakt zu werten, sie wollen, dass das Gegenüber Bescheid weiß.
aber das sind von mir schon wieder Annahmen und Spekulationen. vielleicht will der Andere doch, dass ich was dazu sage oder erwartet es wenigstens. werde ich nicht, kann ich nicht. ich weiß nämlich auch nicht mehr über einen Anderen, nur weil ich den Namen einer Diagnose höre. das sagt mir gar nichts.
wichtig ist mir die Begegnung mit Menschen. das angesprochene Stigma durch Diagnosen ist existent, ich weiß.
funktioniert für mich aber gar nicht. schon zu viele Undiagnostizierte erlebt, die in meinen Augen derbe gestört im Kontakt sind, und zu viele Diagnostizierte, mit denen ich auch über längere Zeit gut zurechtgekommen bin.
und wie bereits in anderen Faden zitiert : wer keine Diagnose hat, war nur noch nicht beim Arzt.
zeigt mir welche, die heil durch diese absurde Welt kommen. die 70 Jahre ohne größere Anfechtungen überstehen, die unterwegs keine Diagnose kriegen. das kann es geben, man kann eigentlich fast alles auch so hinkriegen, aber spätestens wenn ein Hilfesuchender zum Arzt kommt, gibt es eine Diagnose, das ist fast systemimmanent.
kuckt euch an, wie der Umfang des ICD-10 gewachsen ist in den letzten Jahren. und psychotherapeutische, psychologische und psychiatrische Betreuungen sind unter anderem auch Beratungsleistungen. und in der Beratungsindustrie herrscht der Grundsatz, dass Beratende stets weiteren Beratungsbedarf sehen - it's what they do. und so was wird über Diagnosen begründet.
darüber hinaus gelten als behandlungsbedürftige Diagnosen fast immer nur Krankheitsbilder, die den Menschen das Arbeiten verunmöglichen oder erschweren.
abgesehen von der dümmlichen Ekelhaftigkeit dieses Menschenbildes sagt die Arbeitsfähigkeit von Menschen nichts darüber aus, wie sie sich im zwischenmenschlichen Kontakt verhalten oder über generelle Qualitäten des Menschlichen.
es gibt so viele, die funktionale Störungen pushen wie Soziopathen, Choleriker, Kontrollfreaks, die sich selbst einfacher instrumentalisieren können in den Zahnrädern der Systeme und 'unauffällig' vor sich hinwurschteln.
oder lass es einfach nur servile Anpassungskünstler sein. mit denen könnte ich nichts anfangen. oder Menschen die nach unten treten und nach oben buckeln, da stellen sich mir die Nackenhaare auf und ich gehe sofort fauchend in Angriffshaltung.
von welcher Diagnose werden die erfasst, wer warnt mich vor euch, eh.