Meer & Nymphen
Kapitel 4
Wenn eine völlig fremde Frau ihn zu solchen Spekulationen reizte, musste sein Hunger doch mehr Dimensionen haben als gedacht. Er schüttelte den Kopf über sich selbst.
„Hunger?“, fragte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Er würde den Teufel tun und irgendeinen zweideutigen Unterton in dieses banale Wort hinein fantasieren. „Wie ein Wolf.“ Für seine eigene Stimme konnte er in Sachen Zweideutigkeit leider keine Garantie übernehmen.
„Mögen Wölfe gegrillten Fisch und Meeresfrüchte?“
„Wenn es sich um Seewölfe handelt, auf jeden Fall.“
Sie musterte ihn mit einem seltsamen Blick, den er nicht so recht deuten konnte. Wahrscheinlich war ihr nun auch aufgefallen, dass er dummes Zeug faselte. Aber sie schien sich nicht daran zu stören, eher im Gegenteil: Sie schlug einen vertraulicheren Ton an.
„Dann setz dich.“ Sie wies auf einen Tisch am Fenster, von dem aus man einen atemberaubenden Blick über die See hatte. „Ein Bier?“
„Sehr gerne!“
Sie stellte eine Flasche und ein Glas vor ihn hin. „Sehr zum Wohl! Das Essen ist auch jeden Moment fertig. Ich bin gleich zurück!“
Mit wiegenden Schritten ging sie quer durch die Gaststube, die Verführung auf zwei Beinen. Seine Blicke folgten ihr, bis sie durch eine Tür verschwand. Jede ihrer Bewegungen schien eine kleine Provokation zu sein. Allein dieses fließende Rollen ihrer Hüften – ein wenig stärker, als es unbedingt nötig gewesen wäre… Machte sie das bewusst? Spielte sie mit ihm? Oder verstrickte er sich gerade in Fantasiegespinste? Was war bloß los mit ihm? Vertrug er das schottische Klima nicht?
Irgendwie schienen seine Instinkte ungewöhnlich stark auf diese Frau zu reagieren, die er absurderweise immer noch nicht nach ihrem richtigen Namen gefragt hatte. Vielleicht war sie ja tatsächlich eine Selkie, an Land gestiegen mit der Gier der See in ihrem Körper. Bereit, jeden menschlichen Widerstand mit der Gewalt einer Sturmwoge ins Meer zu reißen. Nicht, dass sie in seinem Fall mit sonderlich viel Widerstand zu rechnen hätte! Wenn er erst ihre meeresfeuchten Hände in seinem Nacken spürte… ihre feuchte Zunge in seinem Mund… ihre feuchte Spalte, pulsierend im Rhythmus der Gezeiten… ihre gischtschäumende Lust…
Sein Mund wurde trocken, und er trank rasch einen Schluck Bier.
Joah, großartig, David! Jetzt auch noch Alkohol auf nüchternen Magen! Konnte man so machen. War dann halt Kacke. „Reiß dich zusammen, verdammt nochmal!“ Sein stummer Fluch verhallte ungehört. Er wusste selbst nicht, ob er ihn an sich selbst gerichtet hatte oder nur an seinen Schwanz. Sonderlich viel Wirkung zeigte er jedenfalls in beiden Fällen nicht.
Er starrte aus dem Fenster aufs Wasser und versuchte, auf andere Gedanken zu kommen. Wenn er sich nicht bald wieder einkriegte, würde er sich hier jeden Moment zum Deppen machen! Doch selbst die Wellen gaukelten ihm Meereswesen mit wogenden Haaren, üppigen Brüsten und schimmernden Flanken vor. Sinnliche Nymphen, die einen in erotische Strudel zogen, aus denen es kein Entrinnen mehr gab.
„Stimmt was nicht?“ Die Stimme seiner Gastgeberin fuhr ihm in seine Gedanken. In einer Mischung aus Besorgnis und Spott, wie ihm schien. „Du siehst ein wenig blass aus. Komm, lass uns einen Happen essen!“
Damit setzte sie sich ihm gegenüber und stellte zwei Teller aus blauer Keramik auf den Tisch. Darauf angerichtet waren knusprig gegrillte Fischstücke und eine Art Auflauf aus Meeresfrüchten, dazu frisches Brot und ein Salat, der aus Algen zu bestehen schien. Erleichtert griff David zu Messer und Gabel, um sich einem weniger verfänglichen Vergnügen zu widmen. Er spießte ein Stück Fisch auf und kostete.
„Hmm! Wirklich ausgezeichnet!“
„Das freut mich!“ Sie wandte sich mit sichtlichem Appetit ihrer eigenen Portion zu.
„Ich bin aber nicht hier, weil du ein Loblied auf deine Kochkunst hören willst, oder?“
Sie warf ihm einen ihrer unergründlichen Blicke zu. „Geduld gehört nicht gerade zu deinen Stärken, was? Aber keine Sorge: Der Journalist in dir wird auch noch auf seine Kosten kommen.“
Woher wusste sie, dass er Journalist war? Er konnte sich nicht daran erinnern, das in ihrer kurzen Konversation erwähnt zu haben. Wozu auch? Wahrscheinlich hatte sie nach seiner ersten Mail einfach nach seinem Namen gegoogelt und war auf ein paar Artikel von ihm gestoßen. Er fühlte sich ein bisschen geschmeichelt. Denn die hatten ihr offenbar gut genug gefallen, um ihn unter einem Vorwand hierher zu locken. Und damit war auch klar, was er hier sollte. Sie brauchte schlicht und einfach Publicity, um mehr Gäste in ihr Haus zu bekommen. Ein Artikel in einer großen, überregionalen Zeitung konnte da durchaus etwas bewirken.
„Ich hoffe, die Geschichte ist gut“, sagte er zwischen zwei Bissen.
„Das musst du schon selbst beurteilen. Ist eine Geschichte gut, die von alten Geheimissen handelt, von der Magie des Meeres und der Macht erotischer Ekstase?“
... Fortsetzung folgt ...
© Kea Ritter, Juni 2024