DER KUSS
Die Tür knarrte leise, als sie sich öffnete. Das Licht des späten Nachmittags flutete in den Raum und zeichnete lange Schatten auf den Holzboden. Da stand er – die Gestalt, die sie in den letzten Wochen, Monaten, vielleicht sogar Jahren so gut zu kennen geglaubt hatte. Und doch war etwas anders. Es war nicht die Art und Weise, wie er sich bewegte oder die Kleidung, die er trug. Es war diese unausgesprochene Distanz, die sie seit einiger Zeit spürte, wie eine Kluft, die sich immer weiter ausdehnte, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte.„Hallo“, sagte er leise, fast unsicher, als er den Raum betrat. Sein Blick glitt über den vertrauten Raum, als würde er ihn zum letzten Mal sehen, als würde er versuchen, sich jedes Detail einzuprägen. Ihre Augen trafen sich für einen Moment, und in diesem kurzen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. All die unausgesprochenen Worte, die verpassten Chancen, die unausgefüllten Leerstellen zwischen ihnen wurden plötzlich greifbar, wie ein dichtes Netz aus Erinnerungen und Gefühlen, das beide umgab.
„Hallo“, antwortete sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Es fühlte sich surreal an, ihn so vor sich zu sehen, als wäre das alles nur ein Traum, aus dem sie jeden Moment erwachen würde. Aber das war kein Traum. Es war Realität, und die Realität war härter als jeder Albtraum.
Er schloss die Tür hinter sich, trat näher und blieb schließlich vor ihr stehen. Die Luft zwischen ihnen schien zu vibrieren, erfüllt von einer unausgesprochenen Spannung, die sie beide spürten, aber keiner wagte, auszusprechen.
„Ich dachte, ich würde es verstehen“, begann sie schließlich, ihre Worte sorgfältig wählend, als hätte sie Angst, das fragile Gleichgewicht zwischen ihnen zu zerstören. „All die Momente, all die Gespräche… Ich dachte, ich würde verstehen, was zwischen uns passiert.“
Er nickte, aber er sagte nichts. Seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht, suchten nach einem Zeichen, nach einer Erklärung, die vielleicht genauso viel Sinn für ihn machen würde wie für sie.
„Aber jetzt“, fuhr sie fort, ihre Stimme bebte leicht, „jetzt sehe ich, dass es nur die Zeit war, die mich eingeholt hat. Es war nicht das Verstehen, das ich suchte, sondern das Akzeptieren. Akzeptieren, dass Dinge sich ändern, dass Menschen sich ändern.“
Er atmete tief ein, als würde er versuchen, seine Gedanken zu ordnen, bevor er antwortete. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich, und in seinen Worten lag eine Schwere, die sie fast physisch spüren konnte. „Ich wollte nie, dass es so endet.“
Sie schloss für einen Moment die Augen, ließ die Worte auf sich wirken, bevor sie antwortete. „Es gibt nur noch eine Sache, bevor du gehst.“
Er sah sie fragend an, sein Blick suchte nach Antworten, die er nicht zu finden schien. „Was meinst du?“
„Wenn dies der letzte Kuss ist“, sagte sie leise, „dann lass ihn mich für immer begleiten. Wenn dies die letzte Berührung ist, dann lass sie mich wärmen, wenn die Nächte kalt und einsam sind. Wenn dies das letzte Mal ist, dass ich dich jemals halten kann, dann lass es mir die Kraft geben, weiterzumachen.“
Er schwieg, doch seine Augen sprachen Bände. Es war Schmerz darin, aber auch ein leises, kaum wahrnehmbares Einverständnis. Sie beide wussten, dass es keinen anderen Weg gab.
Langsam trat er näher, hob eine Hand und legte sie sanft an ihre Wange. Die Berührung war so vertraut und doch so fremd zugleich. Ihre Augen schlossen sich, als sie den Moment in sich aufnahm, jede Sekunde auskostete, als wäre es wirklich das letzte Mal. Vielleicht war es das. Vielleicht würde dies der letzte Kuss sein, den sie jemals von ihm bekommen würde.
Ihre Lippen trafen sich, und für einen Augenblick schien die Welt stillzustehen. Es war kein leidenschaftlicher Kuss, kein Kuss voller Verlangen. Es war ein Kuss des Abschieds, ein Kuss voller Erinnerungen, voller Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit und voller Trauer über das, was nicht mehr sein würde.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, fühlte sie, wie die Tränen in ihren Augen brannten, aber sie ließ sie nicht zu. Sie wollte stark sein, für sich selbst, für ihn.
„Ich werde das irgendwie durchstehen“, sagte sie leise und sah ihm direkt in die Augen. „Ich werde dir nicht im Weg stehen. Ich werde nicht einmal anfangen zu sagen, dass du nie besser ausgesehen hast, niemals so gut für mich ausgesehen hast.“
Er schluckte schwer und nickte. „Du warst immer stark“, sagte er schließlich, seine Stimme rau vor Emotionen. „Und ich hoffe, du wirst es auch weiterhin sein.“
Sie lächelte traurig. „Obwohl ich das schon einmal gefragt habe, werde ich nie mehr fragen. Schließ einfach deine Augen und bitte… Tu das für mich.“
Er zögerte, als wollte er noch etwas sagen, doch dann tat er, worum sie ihn bat. Er schloss die Augen, atmete tief ein und ließ die Stille zwischen ihnen wirken. Es war eine Stille, die so viel mehr sagte als Worte es jemals könnten.
„Und wenn dies der letzte Kuss ist“, flüsterte sie, „dann werde ich mich daran gewöhnen. Ich werde mich daran gewöhnen müssen.“
Er öffnete die Augen und sah sie lange an, bevor er schließlich einen Schritt zurücktrat. „Auf keinen Fall“, sagte er leise, und seine Stimme zitterte. „Auf keinen Fall werde ich mich jemals daran gewöhnen.“
Dann drehte er sich um, ging zur Tür und hielt einen Moment inne, bevor er sie öffnete. Ohne noch einmal zurückzusehen, verließ er den Raum, und mit ihm schien ein Stück ihrer Seele zu gehen.
Die Leere danach
Die Tür fiel leise ins Schloss, und mit diesem Geräusch schien die Welt um sie herum plötzlich seltsam still zu werden. Kein Windhauch, kein Vogelgesang, nicht einmal das Ticken der Uhr war zu hören. Alles war in eine tiefe, unendliche Stille getaucht, die sie fast erdrückte.
Sie blieb noch einen Moment stehen, ihre Augen starr auf die geschlossene Tür gerichtet, als würde sie erwarten, dass er jeden Moment zurückkehren würde. Aber er kam nicht zurück. Sie wusste, dass er nicht zurückkommen würde. Dieses Kapitel war abgeschlossen, und es gab nichts, was sie tun konnte, um es wieder zu öffnen.
Langsam ließ sie sich auf die Couch sinken und zog die Beine an ihren Körper, als wollte sie sich selbst Schutz bieten. Der Raum um sie herum fühlte sich plötzlich viel zu groß an, viel zu leer. Jeder Gegenstand schien eine Erinnerung in sich zu tragen, ein Stück von ihm, von ihnen, von dem, was einmal war.
Ihre Gedanken drehten sich in ihrem Kopf, formten Fragen, auf die es keine Antworten gab. Wie hatten sie hierher kommen können? Wann war der Moment gewesen, an dem alles begann, auseinanderzufallen? War es ein schleichender Prozess gewesen, den sie beide nicht bemerkt hatten, bis es zu spät war? Oder war es ein einzelner Augenblick, ein Fehler, der alles zerstört hatte?
Sie wusste es nicht, und vielleicht war es auch egal. Das Ergebnis war dasselbe: Er war weg und sie war allein.
Die Stunden vergingen, aber sie spürte die Zeit kaum. Alles, was sie fühlte, war diese unendliche Leere in ihrem Inneren, als wäre ein Teil von ihr mit ihm gegangen. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie weitermachen musste. Sie musste einen Weg finden, sich an diese neue Realität zu gewöhnen, auch wenn es weh tat.
Doch wie gewöhnt man sich daran, einen Menschen zu verlieren, der so tief in einem selbst verwurzelt war? Wie findet man den Mut, weiterzumachen, wenn jede Erinnerung an ihn gleichzeitig Trost und Schmerz bringt?
Sie wusste es nicht, aber sie war entschlossen, es herauszufinden.