„Und schlussendlich reden wir bei den "Warum"-Aspekten von Dingen, die im bisher diskutierten Rahmen nicht nur theoretisch hergleitet, sondern empirisch unterfüttert sind. Damit wird ein kausaler Zusammenhang in den Sozialwissenschaften als "bestätigt" betrachtet.
Ich bestreite nicht die empirische Unterfütterung.
Die empirisch feststellbaren Tatsachen sind letztlich aber das zu Erklärende. Man sieht Phänomene, misst statistische Zusammenhänge und wenn man signifikante Korrelationen findet, sucht man nach Erklärungen. Diese werden in der Theorie konstruiert. Das, was man als Verursachung oder als Wechselwirkungen für erklärungskräftig hält, ist meistens selber so nicht empirisch messbar. Das Problem hat jede sozialwissenschaftliche Theorie. Daher ist es kein Makel feministischer Theorien. Die "gläserne Decke" etwa, die kann man nicht messen, aber man kann dafür Indikatoren empirisch dokumentieren.
Du verwendest außerdem "Theorie" hier nicht sauber. Eine Theorie ist ein kausales Aussagesystem und sagt, WARUM etwas so ist, wie es ist. Hier geht es in erster Linie aber darum, DASS etwas so ist, wie es ist, und dessen Akzeptanz. Schon da gibt es ja auch von Dir ex- oder impliziten Widerspruch.
Ich widerspreche gewissen Schlussfolgerungen. Ich bin z.B. schlicht nicht der Meinung, dass ich für die Belästigungen, die Frauen erfahren, verantwortlich sind. Dass sie sie erfahren, bestreite ich nicht. Das halte ich für eine Tatsache und da bin ich bei Dir, denn das ist in der Tat gut dokumentiert. Es gibt das gesellschaftliche Problem der sexuellen Belästigung.
Beispiele zum Thema Sauna sind hier ja auch reichlich gegeben worden.
Wo ich nicht mitgehe, ist die Annahme, dass es ein umfassendes System patriarchalischer Frauenunterdrückung gibt, dass das so lückenlos und geschlossen funktioniert, dass selbst ich in irgendeiner Weise Teil des Problems wäre, auch wenn ich keine Frauen belästige. Damit stelle ich jetzt nicht in Abrede, dass es in dieser Gesellschaft patriarchalische Strukturen gibt. Die existieren. Sie existieren aber neben anderen Strukturen und durchwirken meines Erachtens eben nicht jedes einzelne individuelle Leben bis in den hintersten Winkel.
Nicht jeder einzelne wird durchgängig und jederzeit und das kontextunabhängig als Junge auch in aller Konsequenz patriarchalisch sozialisiert, also in dem umfassenden Sinne, dass man sämtliche problematischen Einstellungsmuster mit sich herumträgt, vom "male gaze" bis hin zum "entitlement". Da sind immer Brüche möglich und es können auch immer andere Einflüsse hinzukommen. Schließlich ist kein Mensch ein Sozialisationsautomat, der schlicht internalisiert, was ihm dargeboten wird. Die Brüche können eben auch im Sozialisationsprozess geben, in der individuellen Aneignung ganz unterschiedlicher Angebote an Vorbildern.
Die bruchlos funktionierende Systemhaftigkeit ist vielmehr ein voraussetzungsreiches Modell. Es ist teils auch plausibel, weil es Systemeffekte gibt, die gesellschaftsweit auffindbar sind, z.B. der Pay Gap. Das ist eine systematische Benachteiligung, die mutmaßlich auch dann entsteht, wenn die meisten Verantwortlichen guten Willens sind. Zumindest gibt es Indizien dafür, dass es so sein kann. Dennoch ist es nicht unbedingt wahrscheinlich, dass sich solche Systemeffekte reibungsfrei durchsetzen. Das ist nicht einmal beim Gender Pay Gap so. Der betrifft ja Wahrscheinlichkeiten statistischer Art. Es entstehen keine 100-prozentigen Effekte.
Das ist bei Sozialisation und den damit einhergehenden Verhaltensweisen eigentlich nicht anders. Es gibt sicherlich gewisse Wahrscheinlichkeiten, also eine gewisse Prognosesicherheit der Art "Wenn dem Kind stets X erzählt wird, wird es mit einer Wahrscheinlichkeit von y% später auch X tun". Grund genug, um einzugreifen. Aber höchstselten wird man hier sagen können, dass das für alle Fälle und immer gilt.
Und nur dann wäre es nicht anmaßend, zu sagen: Jedes männliche Wesen sei Teil des Problems, also verantwortlich.