Liebeserklärung mit Pffff ...
Als ich gerade vorher mir an diesem Automaten einen Kaffee bestellt habe, der sich witzigerweise Service Point nennt, obwohl man als Kunde alles selbst machen muss, ist mir beim Herauskramen der Karte zum Bezahlen aus der Vielzahl der Fächer meines Portemonnaie, der geknickte Brief der Praxis herausgefallen, der mir unter anderem neuerdings Kaffee verbietet.Worte stehen darin, die ich bisher noch nie gehört habe: Duodenum, Papilla Vateri, epithelial, distal, maligne, periampullär. Nur ein Wort habe gleich kapiert: Karzinom.
Reizend war sie irgendwie gewesen, die junge Ärztin, als sie mir mit Elan in der Überzeugung ihres Machbarkeitswahns erklärte, was das Team alles operativ anstellen würde, damit es mir bald wieder gut gehen und ich wieder ein - wie sie sagte - "junger Springinsfeld" sein würde ...
Vergebliche Liebesmüh' ihr versuchen klar zu machen, dass ich mit meinem 81 Jahren längst eine ganz andere, eine gegenteilige Gewissheit in mir trage und in keine Operation einwilligen werde ...
Eine Neujahreskarte aus dem Jahr 1976 ist mir aber neben dem Arztbrief auch noch in die Hände gefallen. Ein Foto, das jetzt neben dem Becher mit dem Kaffee liegt. Das erste von Maritza und mir. Es zeigt uns in der Badewanne. Sie mit einem stilisierten Heinzelmännchenhut aus Schaum auf dem Kopf und ich einem ebenso geschaffenen Bart am Kinn. Merkwürdig gerundet strahlen wir in die Kamera, glänzend, ungetrübt.
Mensch, wie war ich stolz auf die Nikon mit Selbstauslöser, die wir auf den Klodeckel gestellt hatten ... "Männer und ihr Spielzeug" hat sich mich damals aufgezogen (und ich sie aus ... ).
Lange Zeit konnten wir nicht davon lassen, immer gemeinsam zu baden oder zu duschen - vielleicht ein Sinnbild, weil wir uns gegenseitig den Dreck von unseren Seelen gewaschen haben ... aber ich übertreibe vermutlich.
Der Charakter unserer Waschungen hat sich freilich mittlerweile geändert: Jetzt sitzen wir abwechselnd auf einem Hocker in der Dusche und reiben uns nacheinander die Rücken ab - unsere Haare (bzw. das, was mir geblieben ist) waschen wir auch im Sitzen am Waschbecken.
Auch heute noch fühle ich mich ausgezeichnet, sie berühren zu dürfen. Beinah scheu bin ich dabei und getraue mich nicht richtig. Ist es mir doch, als vergriffe ich mich in einer Art verbotenen Terrain, keinesfalls harsch oder gar grob will ich sein, immer nur sanft - während Maritza mich oft genug dann ungehalten anschnauzt: "Jetzt reib' doch endlich! Wie soll ich denn sauber werden!? Ich spür' gar nix ..."
Ähnlich geht es mir, wenn ich sehe, wie sie ihre Brüste wie etwas Fremdes, etwas Überflüssiges, sogar Störendes in die Körbchen ihres BH stopft - symbolisieren sie für mich doch schon etwas schier Heiliges, zumindest absolut Unbegreifliches in ihrer Weichheit und Nachgiebigkeit in Verbindung mit ihrer Bestimmtheit mir fremd zu bleiben (und damit umso verlockender sind, immer noch ...).
"PF 1976" hatte Maritza damals mit Nagellack auf das Foto oben rüber gemalt - was ich nicht verstanden habe. Für sie allerdings stimmig, denn eines sei doch logo: "Mit uns, das geht eh nicht lang, also: Du und ich - pfffffffff ..." Und dann hat sie schallend gelacht angesichts meines verdutzten Gesichts und hat mir einen Schmatz auf die Stirn gedrückt.
Und dann ernst wie ein böses Omen: "Ich erklär' dir dann mal, was PF bedeutet, wenn wir uns trennen, damit du ruhig schlafen kannst" und dann hat sie schon wieder gelacht, lauter und unbekümmerter und ich bin mir erst recht wie ein Vollidiot vorgekommen.
Und in der Tat stand unsere Verbindung von Anfang an unter keinem guten Stern. Unbegreiflich ist sie vor allem für alle Außenstehenden gewesen. Am meisten für ihre Eltern, die ihrer Tochter eine ganz andere und bessere Partie als ich es darstelle, gewünscht haben, als eine - damals habe ich noch als Brieftträger gearbeitet und war dabei im zweiten Bildungsweg Abi zu machen, um anschließend erst zu studieren, als Werkstudent, ja, so was gab es damals - als eine wie sie behaupteten "Witzblattfigur".
Maritza ist lang und gertenschlank - immer noch - hat mich um einen halben Kopf überragt, während ich hingegen klein, untersetzt, gedrungen bin ... na ja, um ehrlich zu sein: dicklich bin, wobei ich in letzter Zeit enorm Gewicht verloren habe. Wir waren und sind per Augenschein in etwa so etwas wie Pat und Patachon ...
Ihr Vater hat ihr schon einen gewaltigen Knacks mitgegeben, hielt er sie doch für unweiblich wegen ihrer Länge und weil sie "flach wie ein Brett ist und nie einen Mann abkriegen wird!"
Ein Knacks, der sich auf mich übertragen hat, habe ich doch Maritza unterstellt, sie würde sich nur deshalb mit mir abgeben, weil sie glaubte, außer mir würde sie sowieso keinen anderen (besseren) "abkriegen".
Das war natürlich ungerecht und eher Ausruck von meinem eigenen Minderwertigkeitskomplex ihr gegenüber.
Jedenfalls ging die Vergiftung so weit, dass wir uns nach nicht mal einem Jahr wieder trennten.
Maritza zog mit einer Frau zusammen und ich dachte, das war's. So wie sie mir allerdings weiter in Gedanken nachgegangen ist, habe ich mich auch zu dieser Zeit keinen Augenblick von ihr entliebt. Es ging einfach nicht. Es war schlicht unmöglich, sie zu vergessen und mich nach neuen Ufern aufzumachen - ich hätte nicht sagen können, warum eigentlich ... am meisten rätselhaft war für mich, diese ihre neu entdeckte lesbische Seite.
Später vertraute sie mir an, sie hätte sich mit Clarissa - so hieß die Frau - nur aus Mitleid zusammengetan.
"Mitleid", habe ich sie gefragt!? "Hast du dich etwa auch mit mir nur aus Mitleid abgegeben!"
"Verstehst auch gar nix", war ihre ungehaltene Reaktion.
Dann nach einer Weile:
"Aus Mitleid mit mir selber".
"Jetzt verstehe ich dich erst recht nicht ..."
"Himmel! - Vor dir bin ich weggelaufen, aus Mitleid mit mir selber. Weil ich dich so geliebt habe."
"Du sprichst in Rätseln, wie kannst du denn vor mir wegglaufen, wenn du mich liebst!? Wenn du mich liebst, wie du sagst, dann bleib."
"Du verstehst immer noch nicht. Ich hatte Angst, dass wenn wir zusammenbleiben, dann bedeutet es für mich Kinder und Küche ... vorprogrammiert ... und das wär's dann gewesen."
Nach einer Pause, in der ich wie geistig gelähmt gewesen bin:
"Ich habe lange gebraucht zu erkennen und zu begreifen, dass du nie von mir verlangt hättest, eine 0815 bürgerliche Beziehung mit mir zu führen mit Kind und Kegel, Haus, Auto, Garten und dem ganzen Dreck, den kein Mensch braucht ... dass dir auch anderes vorgeschwebt hat."
Draußen vor dem Fenster des Schnellrestaurants geht Maritza vorbei. Schwerfällig an einer Krücke. Die flach stehende Sonne gibt ihren kurzen Haaren einen orange-rötlichen Schimmer. Etwas gekrümmt und eingeknickt geht sie um Haltung bemüht, weiß sie doch, dass ich sie sehe. Beim Arzt ist auch sie gewesen. Seit bald einem Jahr ist sie bemüht mir weizumachen, dass sie bloß eine neue Hüfte braucht - doch ich fürchte, es steckt weit mehr dahinter. Wer weiß, vielleicht hat auch sie heute einen Brief dabei ...
Ich lasse alles liegen und stürme hinaus, will hinaus stürmen, um ihr zu helfen, dann das ekelhafte Sodbrennen - egal, ob es jemand sieht, ich spucke in Richtung der Tablettrückgabe etwas Bräunliches aus.
Ich halte Maritza dir Tür auf, obwohl sie es nciht duldet, dass ich sie wie einen "Krüppel" behandle. Dennoch der Anflug einer Lächelns in ihrem Gesicht und sie drückt ihre linke Seite gegen meine rechte Schulter, die intimste Annährung, die wir uns in der Öffentlichkeit zugestehen.
Zumindest den Mantel darf ich ihr abnehmen. Als sie sich gesetzt hat, packt sie ihren kleinen Handspiegel aus und - als ob ich gar nicht da wäre - zieht sie mit dem kräftigen Dunkelrot ihre Lippen nach. Früher hätte ich ihr Oberflächkeit unterstellt, die Absicht, Männern zu gefallen, doch mittlerweile weiß ich, dass es einfach zu ihrem Selbstverständnis gehört und mit Männern, bzw. mit mir, gar nichts zu tun hat. Sie bringt sich ihr Selbstbild in Ordnung, nicht mehr und nicht weniger. Ihre Identität ...
Dann schaut sie mich zufrieden an, genauso offen wie auffordernd. Ich verstehe.
"Ich bin gleich wieder da," lächle ich zurück.
Mit zwei Portionen Pommes komme ich zurück, jeweils einem Tütchen Ketchup und Majo. Wir türmen die Pommes zu einem Haufen und quetschen Ketchup und Majo darauf aus. Wieso? Weil wir Mikado spielen wollen. Andere spielen Karten, Schach, Backgammon - wir spielen mit den Pommes Mikado.
Jahrelang haben wir bei diesem vermeintlichen Spiel alles Wichtige besprochen.
"Du hast gewackelt!" Schmunzelt Maritza - ich verstehe, sie will das Pommes Frites mit der meisten Majonnaise und "Ja, ich habe gewackelt" - warum auch soll ich es ihr nicht lassen!?
Ihr Blick ist längst auf das Foto mit unserem Badewannengruß aus dem Jahr 1976 gefallen. Sie nimmt es in die Hand, in der anderen das Pommes und sagt:
"Wenn wir zuhause sind, müssen wir ein neues Bild machen".
"Aber es ist doch noch gar nicht Neujahr?" stelle ich blöder- und überflüssigerweise fest.
"Pour feliciter - verstehst du wirklich nicht?"