Ein wenig Wortklauberei
Da wir hier Begriffe und unser Verständnis von ihnen diskutieren, dürfen wir auch Wortklauberei betreiben. Wortklauberei kann ein Hilfsmittel sein, unser Bewusstsein für die Bedeutung der Begriffe zu schärfen. Was wir im Nachgang mit diesem Bewusstsein anstellen, ist dann unsere Sache.
Ist der Unterschied zwischen SSC und RACK so was wie zwischen BRD-Strassenverkehrsordnung und Rennen auf dem Nürburgring? Tote gab es in beiden Bereichen. Extremklettern ist für mich kein geeignetes Parallelbeispiel, weil der Extrembergsteiger alleine in den Tod stürzt, der Dom jedoch Schäden an einem anderen Menschen, nämlich dem Sub hinterlässt (sehen wir mal vom psychischen Leid der Familienangehörigen des Extremkletterers ab).
SSC hat eine lange Geschichte; der Urheber des Begriffs David Stein (ein Mitglied der New Yorker Schwulenszene) wies darauf hin, dass seine ursprüngliche Bedeutungsintention von 1983 in der Rezeptionsgeschichte des Begriffs verfälscht wurde.
Die ursprüngliche Intention war, einen "Minimalstandard für ethisch vertretbaren SM" aufzustellen, keinesfalls jedoch "risikofreien" SM zu postulieren. SSC avancierte jedoch zum Kampfbegriff innerhalb der SM-Community, womit sich die "guten" SMler von den "bösen", weil vermeintlich unverantwortlich agierenden SMlern absetzen konnten. Umgekehrt konnten "hardcore"-SMler sich müde lächelnd von den Weicheier-SMlern absetzen, indem sie stolz verkündeten, sie hätten SSC nicht nötig.
Ich vermute, dass die Wandlung des Begriffsverständnisses von SSC von "risikobewusst" zu "risikofrei" parallel zu allgemeinen Tendenzen der amerikanischen (und in Folge der bundesdeutschen) Gesellschaft verlief. Bereise ich die USA, ist der Begriff, der mir am meisten auffällt, "safety" – Sicherheit. Das amerikanische geschichtliche Grossprojekt ist es, das Leben so sicher zu machen, dass der Tod vermieden wird. Eine SM-Szene, die um gesellschaftliche Akzeptanz ringt, tut gut daran, sich diesen Normen anzuschliessen und das risikofreie Spiel als Norm zu postulieren.
RACK scheint mir in Folge eine Gegenreaktion zu sein: risiko
freies SM-Spiel ist ein solches, das die ekstatischen Tiefen nicht mehr auszuloten vermag und deshalb am ursprünglichen Sinn von SM vorbeigeht und zum "fun", zum Freizeitspass mutiert. RACK setzt sich von
diesem Verständnis von SSC ab und betont, dass das Erlebnis ohne Risiko nicht zu haben ist, fordert dagegen "Risikobewusstsein". Womöglich unbewusst greift RACK genau die Bedeutung auf, die SSC ursprünglich mal gehabt zu haben scheint.
Gleich, welchem Bedeutungsfeld der beiden Begriffe wir unser Sein zuordnen: es geht um's Risiko, wie die vorstehenden Beiträge erläutern. Interessanterweise tun wir eine Menge Dinge, die risikobehaftet sind, ohne dass wir uns
jedes Mal des Risikos bewusst sind. Beispiel: Autofahren. 6000 Verkehrstote pro Jahr. Wir könnten das 6001. Opfer sein, aber wir setzen uns dennoch in unsere Karre. Oder Eis essen. Pro 10millionstem genossenen Eis entsteht eine Salmonellenvergiftung. Wir essen dennoch Eis. "Risikobewusstsein" ist also ein interessanter Begriff, will sagen: sehr subjektiv und auch gesellschaftlich höchst unterschiedlich motiviert. Warum sprechen wir dann bei SM so intensiv darüber? Wenn meine Sub auf dem Beifahrersitz sitzt und ich mache bei 140 kmh auf der Autobahn einen Fahrfehler und sie ist in Folge des Unfalls querschnittsgelähmt, fällt mir der seelische Umgang mit den Folgen meines Versagens leichter als wenn ich bei einer Bondage-Session ihr einen Nerv abklemme und sie lebenslang eine gefühllose Körperstelle hat? Interessant ist auch die gemutmasste Reaktion der Gesellschaft (Familie, Freunde) auf beide Fälle ihres Schicksals: im ersten Fall wohl ein tiefes Bedauern, im zweiten Fall wohl eine Reaktion in der Art: wie konntest du dich auch auf solche perversen Sexspiele einlassen?
Und das bereits erwähnte Problem der Krankenkassenbelastung: Piercing-Nachbehandlung soll zukünftig nicht mehr von den Kassen erstattet werden, Folgen von Verkehrsunfällen jedoch nach wie vor. Wenn ich nun vorschlüge: im Falle von beruflich nicht indizierten Freizeit-Autofahrten sollen die Insassen ihre Behandlungskosten nach Verletzungen selbst zahlen – wie gross wäre die Empörung über meine Forderung? – Mich interessiert hier das je unterschiedliche Mass, mit dem gemessen wird.
Heisst das nicht, dass auch unsere Diskussion über den Risikobegriff bei SSC und RACK von sehr historisch bedingten subjektiven gesellschaftlichen Vorstellungen diktiert ist? Und die sich auch im – bereits zitierten – Strafrecht niederschlagen?
Strapaziere ich meinen (weit hergeholten) Vergleich von SM-Risiko und Verkehrsrisiko weiter, sage ich, dass die Haftung des Fahrers deshalb niedriger ausfällt als des Doms, weil der Fahrer zunächst einen
Führerschein machen musste, der Dom nicht. Verursacht der Autofahrer einen Schaden, tut er es innerhalb seiner (einst) nachgewiesenen Qualifikation zum Führen eines KFZs; der Dom müsste entsprechend etwa eine Mediziner-Ausbildung hinter sich haben, dann wären körperliche Dauerschänden an seinem Sub eher der Kategorie "ärztlicher Kunstfehler" zuzuordnen als der mutwilligen Körperverletzung.
Gleich ob RACK oder SSC: wir diskutieren eine SM-Ethik oder zumindest deren Grundbegriffe. Da Ethik immer
Sollensanweisungen gibt, taugen zur Diskussion Beispiele von Verfehlungen oder Versagen wie im Falle der brennenden Wattebäuschchen nicht viel. Denn es wird immer Menschen geben, die versagen und Leid hervorbringen. Eine SM-Ethik heisst: wenn ihr SMler euch nach Kräften bemüht, den Geboten dieser Ethik zu folgen, seid ihr
schuldfrei, auch wenn etwas Schlimmes passiert. Ich glaube, das ist das, was wir alle gerne hätten.
stephensson
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