Mein kleiner Bruder
Auch wenn es sich erst morgen zum 19. mal jährt, so möchte ich doch die heutige Ruhe des Sonntags nutzen, ein paar Gedanken hier nieder zu schreiben:Es war am Freitag, der 10.Juli 1987, ein Tag den ich wohl immer in Erinnerung behalten werde.
Es war dein dreissigster Geburtstag und wir wollten ihn am Samstag mit vielen Freunden feiern.
Zwar lagst du im Krankenhaus, doch solltest du rechtzeitig wieder fit sein. So auch der Stand der Dinge am Freitagmorgen. Meine Eltern waren zusammen mit meinem Bruder K. zum Krankenhaus gefahren mit dem ursprünglichen Plan, dich in dein Domizil zu bringen. Am Nachmittag klingelte
das Telefon. Am anderen Ende meine Schwägerin.
"Der Dieter stirbt! Der Dieter stirbt! Hast du gerade euer Auto zur Verfügung?!!?"
Nein, das hatte ich nicht. Aber meine damalige Freundin war genau zu dieser Zeit keinen Kilometer weit entfernt in einer Sporthalle mit Jazz-Dance beschäftigt. Eigentlich wohnte sie ca. 20 km weit weg. Vermutlich war es die kürzeste Zeit, die ich jemals zu Fuß für eine solche Strecke benötigt habe. So stürzte ich also in die Halle, erklärte ihr kurz und ausser Atem, dass ich jetzt unbedingt den Wagen brauche und sie doch ihren Vater bitten solle, sie abzuholen. Unter Missachtung einiger Verkehrsregeln fuhr ich also zu meiner Schwägerin und dann zum Krankenhaus, welches wiederum 35 km entfernt lag. Dort angekommen sahen wir meine Eltern und K. rauchend vor dem Hospital.
K. schaute zu uns und schüttelte nur den Kopf.
Du hast deinen Geburtstag nicht mehr feiern dürfen.
Natürlich trauerten wir, auch wenn ich erst Jahre später wirklich Tränen vergossen habe, oder vergießen konnte.
Die Worte des Arztes, nachdem er deinen Tod feststellte und in die Gesichter sah waren sinngemäß:
"Wie man einen solchen Menschen sooo lieben kann!?" und klangen sehr verständnislos.
Wir hatten alles arrangiert, viele Leute hatten zugesagt und die Band hatte die Örtlichkeiten ebenfalls besichtigt, um am Tag darauf eine entsprechende Stimmung produzieren zu können.
Als du geboren wurdest, gaben dir die Mediziner aufgrund deines Krankheitsbildes eine Lebenserwartung von nur sehr wenigen Jahren.
Dieser Geburtstag war für uns also vergleichbar mit dem Hundertzwanzigsten eines "Normalsterblichen".
Keine Geburtstagsfeier, stattdessen ein kleiner Gottesdienst am Samstag nur für dich, zu dem wir alle Gäste einladen "durften".
Ja, ich habe dich häufig und gerne geärgert. Aber du konntest dich auch jedesmal so herrlich aufregen, ja fast bis zur Weißglut. Aber ein Sprichwort sagt, dass sich neckt was sich liebt.
Auch werde ich niemals die silberne Hochzeit der Eltern vergessen, als Mutter den Alleinunterhalter fragte, ob du mal etwas an der Orgel spielen dürftest. Er war sehr skeptisch.
Was solltest du schon spielen können, da du ja nur den linken Arm bewegen konntest. Ein
herrliches Bild wie im anschließend die Kinnlade runterfiel als du deinen obligatorischen Anfangswalzer fehlerfrei hinzaubertest und danach dein Programm abspultest.
Unvergesslich auch deine nette Art, Besuchern verständlich zu machen, dass sie doch bitte langsam mal nach Hause fahren möchten. "Es wird bestimmt gleich nebelig draußen und dann könnt ihr unterwegs fast nichts mehr sehen!"
Auch bei 35 Grad im Schatten und bei strahlendstem Sonnenschein.
Du warst eine absolute Bereicherung für unser Leben. Auch wenn es für Mutter häufig stressig war und viele Nerven kostete. Vermutlich würde sie auch heute noch gerne die Strapazen auf sich nehmen, auch wenn sie mittlerweile fast siebzig ist.
Mein "kleiner" Bruder Dieter. Wenn ich das Lied von Xavier Naidoo "Abschied nehmen" höre, laufen mir die Tränen über mein Gesicht. Auch ich hätte mich gerne noch von dir verabschiedet, doch es ging alles so schnell.
Noch Jahre nach deinem Tod, wenn Mutter mal wieder zu Besuch in deinem 5-Tage-Internat war, rannten einige deiner Kollegen auf sie zu:
"Dieter! Dieter! Wo ist Dieter?"
Für sie genauso unfassbar wie für uns, dass du so plötzlich aus unserer Mitte gerissen wurdest.
Mein kleiner Bruder, ich vermisse dich........
Thomas