Richtig. Gefickt wurde schon immer und solange gefickt wird, gibt es auch Moral. Es gab und gibt immer jemanden, der glaubt, stellvertretend für alle entscheiden zu müssen, was sich gehört und was nicht.
Solange das Gros der Gesellschaft relativ unaufgeklärt durch die Gegend lief, hatten solche Moralapostel entsprechend viele Anhänger. Das Leben war schwierig, unüberschaubar und geheimnisvoll und man war froh, wenn einem jemand einen Wegweiser hindurch zeigte.
Nun hat sich diese Situation ja gerade in den letzten Jahrzehnten drastisch geändert, vor allem was die Sexualität betrifft. Es fand und findet eine umfassende Ent-Tabuisierung statt. Es gibt kaum noch etwas, das man heute nicht öffentlich besprechen könnte, zumindest gibt es für alles und jeden im Internet eine Plattform. Wer neugierig ist, liest sich alles an und meint dann auch sofort, zu allem eine Meinung haben zu können.
Diese Möglichkeiten, die wir heute haben, über ALLES Bescheid zu wissen, die ist positiv und sie ist auch negativ. Denn mit so viel Information muss man halt auch erst einmal umgehen können.
Es gibt Menschen, denen macht diese Entwicklung Angst. Sie finden sie interessant - der Mensch an sich ist ja neugierig - aber sie macht ihnen auch Angst, denn das, was sie als Moral in Familie und sozialem Umfeld kennen gelernt haben, das zählt irgendwie gar nicht mehr. Den Eindruck haben sie zumindest. Worüber man im Elternhaus vielleicht noch gar nicht offen sprechen konnte, darüber unterhalten sich heute die Teenies laut kichernd in jeder U-Bahn.
Ich glaube, dass exzessive Moralkeulen-Schwingerei aus Angst und aus Verunsicherung heraus geschieht. Der Mensch an sich wünscht sich eben einen Rahmen für sein Leben und ein paar Orientierungspunkte. Was ist noch ok, was nicht mehr.
Wenn Lügerei und Betrügerei irgendwann schick und salonfähig ist, woran soll ich mich dann noch halten im Leben? Wie soll ich auf Menschen zugehen, wenn ich mir gar nicht mehr sicher sein kann, ob sie aufrichtig sind zu mir?
Es gibt ein paar Dinge, die sollten immer Bestand haben. Lügerei ist scheiße, jemanden anderen mit Vorsatz körperlich oder gefühlsmäßig zu verletzen ist scheiße, die Befindlichkeiten seiner Mitmenschen zu ignorieren und achselzuckend darüber hinwegzusteigen auf dem Weg zum eignen persönlichen Glück, das ist scheiße.
Rücksicht und Sorgfalt im Umgang mit anderen Menschen ist eine Form von moralischer Forderung, die eigentlich immer aktuell ist. Ich kann mir zumindest keine Situation vorstellen, in der diese Dinge nicht mehr wichtig sind.
Darüber hinaus allerdings halte ich es für wichtig, eine eigene Moral zu haben und diese gut zu kennen. Die Entwicklung dieser Gesellschaft geht nun einmal dahin, dass einem Moral nicht mehr von außen aufgedrückt wird. Umso wichtiger ist es doch, sie in sich selbst zu entwickeln und immer wieder zu hinterfragen und zu modifizieren. Einen kleinen inneren Kompass, den sollte man schon haben.
Dabei sollte man aber nicht vergessen, dass andere Menschen vielleicht einen anderen Wertekompass haben.
Bestes Beispiel: sehr viele Menschen könen sich nach wie vor nicht vorstellen, dass es gute, glückliche Beziehungen ohne das Gebot der sexuellen Treue gibt. Sexuelle Treue ist immer noch eines der höchsten moralischen Güter überhaupt. Und doch gibt es Menschen, die sich entschieden haben, anders zu leben und ihre Gewichtungen anders zu setzen.
Schade ist, wenn das nicht einfach so hingenommen wird. Wenn nicht einfach akzeptiert werden kann, dass andere Menschen anders leben wollen oder anders empfinden. Wenn aus einem Gefühl der subtilen Bedrohung heraus dann mit Fingern gezeigt und vorverurteilt wird.
Jemand mit einer stabilen inneren Moral wird sich von solchen Hetzkampangnern sicher nicht erschüttern lassen, aber es reicht ja zuweilen auch, sich wie ein Aussätziger vorkommen zu müssen.
In einem Forum, das Toleranz und Offenheit predigt.
Ich bin der Meinung, es wird immer Pauschalmoralisten geben. Selbst wenn man offiziellnackt in der Öffentlichkeit jeden vögeln darf, der bei Drei nicht weg ist, wird es immer noch Leute geben, die die Moral der 1950er predigen.
Wohlgemerkt: wenn jemand 1950 leben möchte, dann gönne zumindest ich es ihm von Herzen. Es gibt mehr als einen Weg zum Glücklichsein. Die Frage ist, gönnt der es mir dann auch, dass ich NICHT 1950 leben möchte?
Niveau ist keine Handcreme, aber Moral ist eben auch keine Einbahnstraße.