Brauchen, wollen, müssen...
Menschen sind Rudeltiere, also wenn wir jetzt mal so auf 2 Millionen Jahre Entwicklungsgeschichte zurückblicken. Schon damals, als unsere Vorfahren noch in den Höhlen hockten, entwickelte sich Arbeitsteilung. Ich sammel Früchte und gebe Kleinnagern eins ins Genick, Du gehst Mammut jagen, und Du da kümmerst dich um die Götter, damit sie uns wohlgesonnen sind. In diesem Sinne brauchen Menschen Menschen, damit sie als Individuum und die Menschheit als Ganzes überleben. Damit diese Arbeitsteilung funktioniert, braucht es eine stabile soziale Basis: den Höhlenclan, die Großfamilie, die Paarbeziehung. Und diese Basis ruht nicht auf Logik oder Vernunft, sondern auf emotionaler Bindung. Auch das macht evolutionstechnisch Sinn:
Der aufrechte Gang gab unsern Vorfahren einen enormen Vorteil: besserer Überblick in den prähistorischen, afrikanischen Savannen und zwei freie Hände, um etwas zu transportieren. Erhöhte Sammelleistung = bessere Versorgung = Ressourcen für Weiterentwicklung der Art. Allerdings mussten wir dafür einen Preis bezahlen: Das Becken wurde schmaler. Gleichzeitig wuchs das Gehirn und damit auch der Schädel. Das Resultat ist: Menschenkinder werden "zu früh" geboren, in dem Sinn, dass der Schädel und das Gehirn bei der Geburt erst ca. zwei Drittel des Volumens haben. Daraus wiederum resulitiert eine extrem lange Aufzuchtphase. Die wiederum funktioniert nur, weil der Sozialverband das in der Arbeitsteilung berücksichtigt. (Worüber jedes Paar mit Kinderwunsch bis heute heftigst diskutiert
)
Emotionale Bindungen sind also überlebenswichtig für die Erhaltung der Art. Und schon die Versuche unter Kaiser Friedrich II. Anfang des 13. Jahrhunderts belegen, dass Babies ohne emotionale Zuwendung sterben. Es geht also nicht ohne.
Doch es gibt noch einen weiteren Faktor: die zunehmende Individualisierung vor dem Hintergrund der rasanten technologischen/ wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten 300 Jahre. Wir leben in einer Welt, in der die Spezialisierung dermaßen weit fortgeschritten ist, dass der einzelne gar nicht mehr überblicken kann, was warum und wie geschieht. Menschen fühlen sich ausgeliefert: wenn sie auf's Amt müssen, weil der Chef was will, was sie nicht wollen etc. Stichwort: Fremdbestimmung/ Selbstbestimmung.
In diesem Spannungsfeld müssen wir unseren Platz suchen und finden. Viel von der Art, wie wir das tun, ist konditioniert. Teils treibt uns die Biologie, teils die Konditionierung. Selbstbestimmung ist uns nicht in die Wiege gelegt, die müssen wir uns erarbeiten. Dabei geraten wir früher oder später in Konflikte mit der Umwelt. Eine der möglichen Reaktionen ist: ich empfinde ein geheimes Defizit. Sei es, weil ich etwas nicht kann, was andere können oder weil ich etwas nicht habe, was andere haben. Das ist eigentlich ganz normale in dieser arbeitsteiligen, sozialen Welt. Dafür kann ich was anderes, habe was anderes. Wenn aber nun die Umwelt mir suggeriert, dass mein haben oder können nicht gewollt ist, sackt das Selbstbewusstsein in den Keller.
Ich laufe also jetzt mit diesem geheimen Defizit durch's Leben und sehne mich nach emotionaler Zuwendung. Und dann steht er da: der Traumprinz in der schimmernden Rüstung und ich hauche "mach mich glücklich!". Dahinter steht der Wunsch: heile die Wunden, die ich an mir trage. Mach ganz, was in meinem Inneren kaputt ist. Gib mir so viel Liebe, dass ich selbst glaube, dass ich liebenswert bin!
Und genau mit diesem Anspruch ist jeder Mensch überfordert. Es kann eine Weile "gut" gehen, in Sinne einer symbiotischen Verbindung. Die gemeinsamen Aktionen, Reaktionen auf das Außen (wir gegen den Rest der Welt) lassen an das "Wir" glauben. Aber früher oder später, so meine Erfahrung, wird die Schieflage offensichtlich. Und da vieles von all dem mehr oder weniger unterbewußt abläuft, wird die Schieflage in äußere Handlungen projeziert. "Wenn Du mit Deiner Sandkastenliebe Kaffee trinken gehst, heißt das, Du liebst mich nicht mehr" (nur so als Beispiel).
Und genau in diesem Sinne möchte ich niemanden "brauchen" und auch nicht "gebraucht" werden. Das hat nichts mit Liebesunfähigkeit oder Bindungsangst zu tun. Ganz im Gegenteil: es hat was damit zu tun, selbstbewusst zu leben und zu lieben. Im Sinne von: meiner Selbst bewusst. Und wenn sich eine emotionale Baustelle auftut, dann bin ich bereit, das zu erleiden und auszuleiden. Um beim Beispiel mit dem Kaffetrinken zu bleiben: dahinter meine Verlustangst zu sehen, die Gründe dafür zu entdecken. Und nicht vom anderen zu erwarten, dass er im vorauseilenden Gehorsam so handelt, dass ich diese Angst nicht mehr spüre.
Nur meine bescheidene Meinung
Sylvie
Ist ein bißchen länger geworden