Partnerschaft - Menschsein - Sexualität
Als ich mich vor einem knappen halben Jahr hier im JC angemeldet hatte, so geschah dies, weil auch in der Beziehung zwischen mir und meiner Liebsten der Himmel nicht ständig voller Geigen hängt. Der Klassiker aller Paarprobleme - ungleiches sexuelles Verlangen - schien auch uns das Leben schwer zu machen.Ich habe hier keine sexuellen Kontakte gesucht, sondern gedankliche Impulse, Antworten auf Fragen, Zuspruch und Gegenwind.
Währenddessen, bw. bereits seit ca. einem Jahr haben meine Liebste und ich uns unseren Beziehungsproblemen offensiv gestellt, einfach, weil da noch Liebe ist und wir uns als Menschen schätzen. Das sollte nicht alles den Bach ´runtergehen.
Viele Antworten haben wir uns miteinander geben können. Und auch hier im JC fand und finde ich , was ich suchte: Impulse zum Weiterdenken. Dafür bin ich dankbar.
Nun möchte ich das folgende als Gedankenimpuls zum Weiterdenken in Form eines Essays zurückgeben:
Partnerschaft - Menschsein - Sexualität
Aus freiem Willen, aus freiem Mut und freiem Herzen gelebte Sexualität ist etwas sehr kostbares. Und kaum einem Menschen fällt diese frei gelebte Sexualität einfach so in den Schoß.
Wir müssen sie uns im Laufe unseres Lebens entwickeln, entfalten.
Wie leicht schlägt die kindliche bis jugendliche, sich selbst erforschende Experimentierfreude in unseren erwachsenen Partnerschaften um in eine Sexualität voller Blockaden, inneren Drucks und innerer Zwänge.
Sexualität ist Macht, Sexualität wird mißbraucht, instrumentalisiert und tabuisiert.
Wir betteln um Sex, wir fordern ihn ein. Wir verweigern ihn. Wir sehen die Orgasmen unserer Partner nicht als Ausdruck ihrer Lust, sondern als Bestätigung unserer selbst. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, daß bei ungleichem sexuellen Verlangen der Partner mit weniger Lust ein Problem hat, nicht normal ist, sich ändern muß.
Kommt es zum Ungleichgewicht und zur Unzufriedenheit in der Partnerschaft, heißt es von Außenstehenden schnell: „Was beklagst du dich? Du wußtest doch, mit wem du da zusammen kommst.“ Wir empfehlen Beziehungswilligen, sich über ihre sexuellen Neigungen auszutauschen, ehe sie sich wirklich aufeinander einlassen. Wir tun so, als würde unsere Sexualität klar und offen vor uns liegen.
Eindeutig und unveränderlich.
So, als könnten wir einander unser sexuelles Potential, unsere sexuelle Bonität wie einen aktuellen Kontoauszug, wie eine Schufa-Auskunft vorweisen, ehe wir einen Beziehungsvertrag eingehen.
Wenn sich die Sexualität in der Beziehung auf Dauer dann anders als erhofft darstellt, wird hart - oft mit erstaunlicher Kälte - nachverhandelt. Da wird Kompromißbereitschaft „eingefordert“, da wird in zähem Ringen die offene Beziehung „durchgesetzt“,
„Wenn Du mich liebtest, tätest Du das für mich“ ist ein oft gehörter Satz.
Schnell raten wir unzufriedenen Partnern: „Du wirst deinen Partner nicht ändern. trenn dich besser.“
Die Foren hier im JC sind voll von solchen Geschichten.
Wir gehen miteinander um, als wäre Sexualität Ausdruck der Bezogenheit zum Partner. Das kann nicht gut gehen.
Das kann nicht funktionieren.
Denn Sexualität ist vor allem eines:
Ausdruck unseres Wesens, unserer Seele. Was uns von klein auf prägte, spiegelt sich in unserer Sexualität wider.
Wer von uns Menschen hat aus seiner Kindheit keine Entwicklungsaufgaben mitbekommen, wer von uns stößt nie an die Grenzen seiner selbst? Unsicherheiten, uralte, in Kindheit und Jugend geprägte Gefühle des Nicht-ernst-genommen-werdens, der Fremdbestimmtheit, Schuldgefühle aus Erfahrungen mit Grenzüberschreitungen oder infolge der Trennung der Eltern, und viele andere verinnerlichte Gefühle finden, obwohl längst ins Unterbewußte verdrängt, ihren Ausdruck auch in der Art, wie wir unsere Sexualität leben. Selbst das liebevollste Elternhaus, das größte Geborgenheit
gebende Umfeld kann ein Kind nicht vor Verletzungen und Schmerzen schützen, die das Leben jedem von uns beibringt.
Und die wenigsten von uns lernen von klein auf, sich selbst zu lieben.
Dies ist kein Plädoyer für mehr gegenseitiges Verständnis, mehr Kompromißbereitschaft oder gar ein Appell an unzufriedene Partner, sich in Verzicht zu üben.
Im Gegenteil:
Wie wichtig es ist, sich über sich selbst klar zu werden, darüber, wer man ist, warum man wie handelt und darüber, was man will und für das, was man will auch einzustehen, auch wenn der Partner das nicht gut findet, macht ein für mich zentraler Satz aus dem Buch „die Psychologie sexueller Leidenschaft“ von David Schnarch deutlich:
„Es braucht zwei Menschen, um das System einer Partnerschaft bewegungslos zu halten, aber wenn sich nur einer von beiden verändert, verändert sich auch das System.“
Betrachtet man Sexualität nicht als Ausdruck der Bezogenheit zum Partner, sondern als Ausdruck des eigenen Wesens, der eigenen Seele, so ist klar, daß die Veränderung von dem Partner ausgehen muß, der unzufrieden ist.
Nicht meine Liebste mußte sich zuerst mit ihrem geringen Verlangen auseinandersetzen, sondern ich mich damit, was hinter meinem höheren sexuellen Verlangen steckt.
Es wäre wohl falsch, voreilige, nur scheinbar logische Schlüsse zu ziehen. So muß sich ein instabiles Selbstwertgefühl nicht zwangsläufig in mangelndem sexuellen Verlangen äußern - das Gegenteil kann der Fall sein, wie ich an mir selbst beobachten konnte.
Die Erfüllung meines hohen sexuellen Verlangens hätte, so schien es mir, meinen Selbstwert bestätigt (Ich habe lange gebraucht, um das zu erkennen - und zu erkennen, daß das nicht funktioniert).
Ist es nicht besser, einander - vor allem aber sich selbst - mit Demut und Achtung zu begegnen? Mit Achtung vor dem, was wir erlitten, mit Achtung vor dem, was wir trotzdem geschafft haben?
Ist das nicht besser, als einander als Vertragspartner zu behandeln, denen wir unseren Vorteil abringen müssen? Ist es nicht besser, sich selbst zu hinterfragen, sich seiner selbst bewußt zu werden und so, wie wir sind, mit allem was uns ausmacht, dem Partner gegenüberzutreten?
Selbst auf die Gefahr hin, abgelehnt zu werden?
Man kann nun fragen? Ist Sexualität wirklich so kompliziert? Muß man sich all diese Gedanken wirklich machen?
Ja, denke ich, sie ist so kompliziert - wie wir und unsere Seelen es sind.
Und: Nein, man muß sich diese Gedanken nicht machen, aber
aus freiem Willen gelebte Sexualität ist etwas sehr kostbares.
Je mehr meine Liebste und ich einander erkennen, um so öfter kommen wir in den Genuß dieser kostbaren Frucht!
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So. Nun würde es mich freuen, ein wenig zum Weiterdenken angeregt zu haben.
Wenn es Euch gar nichts sagt - auch in Ordnung - wie das meiste hier habe ich auch diesen Text auch für mich geschrieben.
Freue mich auf Euren Zuspruch, vor allem aber auf den Gegenwind - denn der hilft mir, meine Position klarer zu bestimmen.
Lieben Gruß
erwil