Solche Mittelaltermärkte sind bei weitem nicht die einzigen "Spielplätze", die es ermöglichen, die eigene Rolle abzustreifen.
Zu allen diesen Spielplätzen fährt man hin - man geht weg von zuhause, vom Ort an dem man "lebt" und arbeitet. Nicht umsonst spricht man davon, daß man zB am Urlaubsort und ähnlichen Spielplätzen "auflebt". Mit der heteronomen Rolle ist eben dieses "Leben" häufig nicht vereinbar - auch im 21. Jahrhundert ist eine sexuell aktive, offensive Frau eine Nutte, Hure etc. Man sehe sich nur die entsprechenden (Selbst)Stigmatsierungen an, mit den selbst in sehr offenen, promiskutiven Kreisen ein solches Verhalten belegt wird.
All diesen Spielplätzen ist gemein, daß sie - wieder folge ich Huizinga - abgegrenzt sind vom "Normalen", vom "Ernst des Lebens", wie ein geheiligter Tempelbezirk. Und der Wechsel der Kleidung scheint wohl auch stets dazu zu gehören. Denn die Kleidung war und ist stets auch ein Medium der Kommunikation. Die sogen. "Geschäftskleidung" aus Anzug & Kravatte (oder Kostümchen) symbolisiert am deutlichsten dem Umfeld: ich gehöre dazu, ich unterwerfe mich den Regeln - ganz genauso wie die "Dessous" in Swingerclubs.
Und diese Regeln sind an jenen Spielplätzen auch recht rigide - ich nehme an, dieser merkwürdige (auf mich sehr gestelzt wirkende) Sprachgebrauch auf diesen Märkten, der zu Beginn des threads auch teilweise persifliert worden ist, gehört zu diesem Regelwerk, daß wohl nirgendwo, allenfalls ansatzweise niedergeschrieben ist. Ähnliche Sprachregelungen gibt es zB in der Justiz, der "Rechtssprache" und im Bankenbereich - ich selbst nenne den barocken Schriftstil der Banker für mich das "Bankwelsch". Wenn man es beherrscht, wird man weitaus offener empfangen, als wenn man sich der Normalsprache bedient.
Abgegrenzt sind diese Spielplätze vor allem auch in zeitlicher Hinsicht. Häufig sind Beginn und Ende des Spiels auch zeremoniell hervorgehoben, durch Umzüge, Paraden, Konzerte, Feuerwerke - gottlob seltener durch jene ätzenden Veranstaltungen, die man "Reden" nennt. Gerade das Ende, der Abschluß, das Finale ist wichtig - bezeichnet es doch den Abschied aus der Welt des Spiels und den Wiedereintritt in den "Ernst".
Eines dieser Spiele hat eine uralte Tradition, die eben auch bis ins Mittelalter hineinreicht: der Karneval - eben auch ein solches Spiel, bei dem eine Umwertung aller Werte vorgenommen, das unterste zu oberst gekehrt wird und umgekehrt. Rathäuser werden "gestürmt" - von "Narren", die Obrigkeit räumt bereitwillig ihre prominente Stellung für die Zeit jenes Spiels, und bekanntlich war die Zeit des Karnevals stets auch eine Zeit sexueller Promiskuität, die sogar eingang in heute als bieder empfundene Karnevalslieder gefunden hat: "Am Aschermittwoch ist alles vorbei ... von all Deinen Küssen - darf ich nichts mehr wissen !" Die Soziologie bezeichnet solche Phänomene auch als "Karnevalisierung" - ein offenbar in allen Norm- und Regelssystemen notwendiges Ventil, einen temporären Ausnahmezustand, in dem als belastend empfundene Regeln, wie zB die der exklusiven Monogamie, abgeworfen werden können.
Vielleicht findet auf diesen Mittelaltermärkten eine besonders intensiv wirkende Karnevalisierung statt ?