Marginalia
1) Immer wieder wird auf das Verhältnis von unseren heutigen Mittelaltermärkten und dem historischen Mittelalter hingewiesen - in "kritischer" Art und Weise: Zivilisatorischer Standart, Hexenverbrennung, Inquisition ... Einmal ganz abgesehen davon, daß Lebenszufriedenheit und zivilisatorischer Standart sehr wenig miteinander zu tun haben, dem Umstande, daß Hexen nur deswegen verbrannt wurden, weil mangels entsprechendem Stand der Technik Guillotine, Gaskammern und Gulag noch nicht verfügbar waren, und die Inquisition erst am Ausgang des Mittelalters eine Verbreitung über Südfrankreich hinaus erfuhr und östlich des Rheins kaum je eine nennenswerte Bedeutung erreichte - unsere heutigen Mittelaltermärkte stehen zum historischen Mittelalter in einer ähnlichen Relation, wie die Winnetou-Romane von Karl May zur Realität der Ausrottung und Vertreibung der indigenen Bevölkerung auf dem Territorium der heutigen USA.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß sich irgendjemand, der an solchen Märkten aktiv oder passiv teilnimmt der Illusion hingibt, das was dort "gespielt" wird, wäre ein reales Abbild mittelalterlichen Lebens ! Darüber belehrt alleine das höchstwahrscheinlich auch dort unvermeidliche Dauerblitzgewitter der Digitalcameras.
2) "Spiel" kann durchaus zum mitunter sogar sehr blutigen Ernst werden. Daß ein Spiel von einem Menschen in einer Art und Weise Besitz ergreifen kann, daß es nicht nur zum Lebensmittelpunkt wird, sondern sogar zum alleinigen Lebensinhalt - das weiß jeder, der auch nur mal eine Fernsehübertragung eines Heimspiels von Schalke, dem Betzenberg oder des FC St. Pauli gesehen hat.
Spiel heißt keineswegs stets: müssiger, lustiger Zeitvertreib - "fun", wie man auf denglisch heute sagt. Man betrachte nur Schachspieler beim "spielen". Spiel heißt auch keineswegs, daß nichts auf dem Spiele stünde. Der von mir in Bezug genommene Huizinga hat in seinem "homo ludens" die von ihm herauspräparierten Merkmale des Spiels bei-spiel-sweise auch im Gerichtsverfahren entdeckt, im Duellwesen, das als "Waffen-Spiel" selbst heute noch bei den schlagenden Studentenverbindungen in vollends ritualisierter Form gepflegt wird, ja selbst im Gottesdienst.
3) Spielen ist ein Teil unserer Gesellschaft, und jeder Mensch ist ein Spieler. Gewiss erschöpft sich das Wesen unserer Gesellschaft ebensowenig im Spiel, wie das des Menschen - aber man sollte diese Tatsache doch zur Kenntnis nehmen. Erst recht in einem Forum, daß vor allem dem Liebes-Spiel gewidmet ist - womit ich einen Anschluß an die ursprüngliche Fragestellung suche: die Beobachtung größerer sexueller Offensive von Frauen, die sich an solchen Märkten aktiv beteiligen.
4) Nicht nur die Tatsache an sich, daß eine Frau womöglich mit dem Ablegen ihrer Alltagskleidung und anlegen einer folkloristischen mittelalterlichen Tracht, von einer "normalen Frau" in eine bewußt als solche auftretende Spielerin verwandelt, die den "Ernst" und seine sexualethischen Verpflichtungen hinter sich gelassen hat, kann ihr einen erhöhten Handlungsfreiraum bieten - sondern auch das Spiel selbst kann Regeln setzen, die von unseren gegenwärtigen, in der Allgemeinheit geltenden Regeln im Verhältnis von Männern und Frauen abweichen.
Meine Frau war zeitweise mit einem "Bader" befreundet, der auf solchen Märkten seinen gigantischen Badezuber aufstellte, in der man sich - wenn ich die Erzählungen recht im Kopf habe - kostenlos tummeln konnte und sogar bewirtet wurde - sofern man nackend zu anderen Nackten in diesen Zuber stiegt - seinen Reibach machte der "Bader" mit dem von den Zuschauern dieses Spektakels eingezogenen "Spanntaler".
Alleine, daß ein derartiges "Geschäftsmodel" zumindest dem Grunde nach funktionieren kann, indiziert bereits eine - aus Sicht unserer aktuellen Sexualethik - beträchtliche Frivolität. Wer sich selbst nackt vor anonymen - bekleideten - Zuschauern präsentiert, von denen auch noch ein "Spanntaler" einkassiert wird - der wäre zumindest wenn man die hier im Forum verbreiteten Stellungnahmen über "Niveau" einmal extrapoliert, der Diskriminierung schutzlos ausgeliefert - nicht jedoch, wenn dies im Rahmen eines solchen "Spiels" geschieht: die Grenzen jenes Spiels werden nämlich interessanterweise auch von den respektiert, die ausserhalb des Spielfeldes stehen.