Das Gleichnis von Einsamkeit und Zweisamkeit
Greta und Johann, zwei Menschen aus dem Land der Sehnsucht, waren seit einiger Zeit einander zugetan.
Das Land der Sehnsucht war ein karges Land, in dem alle Zeit Winter herrschte.
Die Menschen dort hatten das Nötigste zum Leben, ihre Häuser waren so klein, daß man sie mit einem großen Schritt durchmessen konnte und ganz dunkel - ganz ohne Fenster, damit nur keine Kälte hineindringen konnte. Wollten Greta und Johann sich sehen, mussten sie sich draussen in der Kälte treffen, so dick eingekleidet, daß nur Sehschlitze für die Augen blieben.
Wollten sie einander spüren, mussten sie sich in ihrem kleinen Haus bleiben, so dicht beieinander gedrängt, daß sie sich zwar spüren konnten, aber auch kaum mehr als die Augen des anderen erblicken konnten.
Ihre Sehnsucht, einander ganz zu sehen, wurde von Tag zu Tag größer, bis sie sich schließlich der Dorfältesten anvertrauten.
Die sah Greta und Johann lange an, ehe sie antwortete:
Was ihr Euch wünscht, ist hier im Land der Sehnsucht nicht denkbar.
Niemand bringt hier in der Kälte der Sehnsucht den Mut auf, sich ganz zu offenbaren.
Ist es Euer fester Wille, einander ganz zu sehen, Euch zu erkennen so rate ich Euch:
Macht euch auf den Weg ins Land der Zweisamkeit.
Ja, das wollen wir, sagten die beiden, woher führt der Weg dorthin, kannst Du es uns sagen.
Die weise alte Frau kniff die Augen zusammen.
Der Weg ist beschwerlich, niemand schafft es beim ersten Mal, ins Land der Zweisamkeit zu gelangen. Habt ihr wirklich die Kraft, es immer wieder zu versuchen?
voll banger Hoffnung sahen Greta und Johann einander an.
wir hoffen es, Dorfälteste! Die Alte atmete noch einmal tief ein, sammelte sich und sprach:
Geht Richtung Mittagssonne, bis ihr zum Ufer des Neubeginns kommt.
Es liegt am Strom der Einsamkeit, ein Fluss von ungeheurer Breite, und vollständig zugefroren. Den müßt ihr überqueren. Haltet Euch dabei locker an der Hand, wenn es geht.
Niemals klammert Euch aneinander. Ihr würden auf dem glatten Eis beide stürzen.
auch wenn einer stürzt, ziehe der andere ihn nicht hoch, er muß es alleine schaffen, sonst stürzen beide.
Wenn das geschieht, wenn ich beide zugleich stürtzt, findet ihr Euch - augenblicklich am Anfang wieder - am Ufer des Neubeginns.
So machten sich Greta und Johann am nächsten Morgen auf den Weg zum Ufer des Neubeginns. Da standen sie nun, vor ihnen der Strom des Neubeginns. Spiegelglatt und endlos breit, so daß man das andere Ufer, das Ufer vom Land der Zweisamkeit nicht sehen konnte.
Nocheinmal blickten sich die beiden an, voll banger Hoffnung, nahmen sich locker bei der Hand und gingen behutsam los.
Das ging auch ganz gut, bis nach einer Stunde Johann stürzte.
Da sie sich nur locker an den Händen hielten stürzte Greta nicht. Johann aber wurde panisch:
Greta, ich bin gestürzt, wenn nur nicht mehr hochkomme! Das Eis ist so glatt! Greta! hilf mir, rief Johann und klammerte sich mir aller Kraft an Greta, ehe sie auch nur versuchen konnte, einen klaren Gedanken zu fassen, so daß auch sie stürzte.
Sogleich drehte sich alles um sie beide - und im nächsten Augenblick saßen sie wieder am Ufer des Neubeginns. dort saß auch die Dorfälteste, die gelegentlich dorthin ging, um die Klarheit am Strom der Einsamkeit auf sich wirken zu lassen.
Greta und Johann erzählten ihr, wie es ihnen ergangen war.
Was hast Du gefühlt, Johann, als Du gestürzt warst?, fragte die Alte.
Ungeheure Angst! Angst und Einsamkeit, ich dachte, ich müßte dort erfrieren, weil ich glaubte, auf dem glatten Eis nicht alleine hochzukommen.
Traurig schüttelte die Alte den Kopf: Dann hast du die Einsamkeit nicht verstanden.
Dorälteste, sagten dennoch beide, wir wollen es morgen noch einmal versuchen, aber diese Unheimliche Kraft, die uns wieder hier ans Ufer gewirbelt hat. Was war das?
Das, sagte die Alte, war die Angst vor der Einsamkeit. sie wirft die meisten, die das Land der Zweisamkeit erreichen wollen, zurück ans Ufer des Neubeginns. Manche Menschen überwinden diese Angst, nie, und niemand überwindet sie beim ersten Mal.
Am nächsten Morgen machten sich Greta und Johann erneut auf den Weg.
Und wieder stürzte Johann an der selben Stelle ihres Weges - mitten auf dem glatten Eis des zugefrorenen Stroms der Einsamkeit. Erschrocken hielten beide inne, keiner von ihnen sprach ein Wort. Johann lag auf dem Eis, und kämpfte gegen die Panik in sich an.
Unter sich hörte er das Wasser rauschen und vernahm im Rauschen des Flusses ein leises Wispern:
Furcht-sam ist Dein Herz, wenn Dich die Furcht ereilt
Heilsam ist Dein Weinen, weil´s reinigt und die Wunden heilt,
hat Dein Herz die Furcht besiegt, hast Du genug geweint,
dann weißt Du:
EIN-sam sein, heißt: DEIN Herz in DIR - ihr seid vereint!
als er das hörte, wurde sein Atem nach und nach ruhiger, er spürte, wie ihn Kraft durchströmte und sprach: Greta, ich bin jetzt ruhig, mach dir keine Sorgen, ich schaffe es, aufzustehen, denn ich spüre jetzt, woraus ich Mut schöpfen kann.
Und tatsächlich gelang es ihm, aufzustehen. Auch wenn sie sich nun nicht vor lauter Glück umarmen durften - sie wären sonst beide gestürzt - fühlten sie sich ermutigt für den weitern Weg.
So gingen sie weiter bis in den Nachmittag hinein.
Da sah Johann plötzlich rechts von sich in der Ferne etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: Greta! Eine Eisblume! Noch nie habe ich eine gesehen! Immer haben die Alten von diesen wundersamen Blumen gesprochen, die nur auf dem Eis von Flüssen gedeihen können, und auch nur dort, wo das Eis so dünn ist, daß nicht mehr als ein Mensch dort stehen könnte. Greta, ich muß dahin! Ich will diese Eisblume sehen, ich will sie zeichnen.
Nein Johann, laß uns weitergehen, der weg ist noch weit, und ich habe Angst, wenn Du weggehst. Und mitgehen kann ich auch nicht, dort wo die Eisblume ist, würden wir zu zweit einbrechen, das Eis ist dort doch zu dünn!
Aber Johann ließ sich in seiner Begeisterung für die Blume nicht davon abbringen, nahm seinen Rucksack von der Schulter um seine geliebten Zeichenuntensilien hervorzuholen.
Greta sah dem Treiben mit zunehmendem Entsetzen zu, bis sie endlich rief!
Johann! Bitte! Ich tue alles was Du willst, wenn Du bei mir bleibst! Wir wollen doch ins Land der Zweisamkeit!
Johann rief: Ja Greta! Aber diese Eisblume muß ich zeichnen, unbedingt! Danach gehen wir bestimmt auch weiter.
Er wollte isch gerade umdrehen und Kurs auf die Eisblume nehmen, da klammerte Greta sich an ihn, und ehe bei sich versahen, saßen sie neben der weisen alten Frau am Ufer des Neubeginns.
Greta und Johann erzählten ihr, wie es ihnen ergangen war.
Was hast Du gefühlt, Greta, als Johann sich der Blume zuwendete?, fragte die Alte.
Ungeheure Angst! Angst und Einsamkeit, ich dachte, ich müßte dort erfrieren, weil ich glaubte, mitten auf diesem weiten glatten Eis nicht alleine den Weg zu finden.
Traurig schüttelte die Alte den Kopf: Dann hast du die Einsamkeit nicht verstanden. Auch Du mußt die angst vor der Einsamkeit überwinden, wenn ihr es noch einmal versuchen wollt.
Ja! einmal wollten sie es noch versuchen.
Und so gingen sie am nächsten Morgen wieder los.
Wieder stürzte Johann und wieder fand er in sich den Mut und die Kraft, auch alleine wieder aufzustehen.
Wieder kamen sie an der Stelle vorbei, wo die Eisblume stand, und Johann sagte.
Greta, ich weiß, was Du denkst. Aber ich kann nicht anders. seit ich ein ganz kleines Kind war, träumte ich davon, einmal im Leben eine solche Blume zu sehen und sie dann zu zeichnen.
Niemand bei uns im Land der Sehnsucht hat je eine gesehen. Bitte, laß mich gehen.
Ich verspreche dir, ich komme so schnell es geht zurück.
Greta nickte stumm.
Danke, rief Johann, und machte sich sogleich auf den Weg.
Da stand sie nun, allein, und Johann wurde immer kleiner. als sie spürte, wie die Angst stärker wurde, ihr Atem schneller wurde drehte sie sich um, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Gedanken stoben nun durch ihren Kopf: Was, wenn er nicht wiederkommt. Was, wenn er mich vergisst, aus lauter Begeisterung für seine Eisblume?
Es kam ein leichter Wind auf, der leise um ihr Gesicht säuselte, und sie vernahm ein Wispern:
Furcht-sam ist Dein Herz, wenn Dich die Furcht ereilt
Heilsam ist Dein Weinen, weil´s reinigt und die Wunden heilt,
hat Dein Herz die Furcht besiegt, hast Du genug geweint,
dann weißt Du:
EIN-sam sein, heißt: DEIN Herz in DIR - ihr seid vereint!
Als sie diese Worte hörte, spürte sie ihren Atem ruhiger werden, und ihre Zuversicht wuchs.
Ja, wenn es dunkel würde, und Johann wäre noch nicht zurück, so würde immer noch der Mond leuchten. Und durch das Eis sehe ich, aus welcher Richtung das Wasser der Flusses strömt. Ja, ich kann mich orientieren. Ich muß hier nicht erfrieren.
Aber Johann kam wieder, mit einem Strahlen in den Augen:
Wunderbar! Ich habe sie gezeichnet! Und wenn wir angekommen sind, zeige ich sie Dir! Du wirst staunen, wie wunderschön eine Blume blühen kann, die aus nichts als aus dem strömenden Wasser ihre Kraft schöpfen kann - so einsam, wie sie da im Eis steht!
Auch wenn sie sich nicht umarmen durften, so waren sie doch beide frohen Mutes, er, weil er seine Eisblume zeichnen konnte, und sie, weil sie die innere Quelle ihrer Zuversicht gefunden hatte.
So gingen sie weiter bis sie glauben, in sehr sehr weiter Ferne das Ufer der Landes der zweisamkeit sehen zu können..
Bald aber wurde es dunkel, und zu allem Überfluss wuchs der vormals leichte Wind zu einem immer heftigeren Wind an, der vom Land vor ihnen her wehte und auch noch Schnee mit sich führte.
Bald war der Wind so laut, daß sie einander nicht mehr verstehen konnten.
Der Wind blies so heftig, daß sie einander nicht mehr bei der Hand halten konnten, und sehen konnten sie sich wegen des dichten Schneegestöbers auch nicht mehr.
Jedem von ihnen beiden blieb nichts anderes übrig, als sich gegen den Sturm zu stemmen und weiterzugehen.
Darauf vertrauend, daß sie in Windrichtung weitergehend, das Ufer erreichen würden.
Jeder von ihnen beiden fühlte sich furchtbar allein. Das Gefühl der Einsamkeit schmerzte in der Brust, daß ihnen die Tränen kamen. Beide fingen nun an zu weinen, daß ihnen die Sicht endgültig verschwamm. Und zugleich merkten sie, wie mit den Tränen die Angst aus ihren Herzen wich, und wie sich inneres Vertrauen zu sich selbst in ihnen breit machte und sie von innen wärmte.
Ja, sie würden es schaffen! Jeder für sich alleine, um einander am Ende, nach dieser Nacht, an der die Einsamkeit ihren schrecken verlor, endlich ganz sehen, endlich ganz erkennen zu können.
die Wärme in ihnen breitete sich aus - und auch die Luft um sie wurde wärmer.
Der Sturm war inzwischen abgeflaut, und trotz der Dunkelheit der Nacht wurde es jedem der beiden so warm, daß sie nach und nach all ihre Kleider auszogen, bis sie schließlich merkten, daß sie festen Boden unter ihren Füßen spürten. Das mußte das Land der Zweisamkeit sein.
Greta und Johann sahen einander immer noch nicht, zu dunkel war die Nacht, aber sie vertrauten darauf, daß der andere es ebenso geschafft hatte wie sie selbst.
Erschöpft legten sie sich in das weiche Gras, um sogleich in tiefen Schlaf zu sinken.
Als Greta sich am nächten Morgen im Schein der ersten Sonnenstrahlen reckte, sah sie Johann neben sich liegen, etwa zwei Körperlängen von sich entfernt. Auch er wachte gerade auf. Langsam standen beide auf und blieben lange voreinander stehen, sich ganz und gar erkennend. und zugleich spürend. Denn das ging im Land der Zweisamkeit, das nur erreicht, wer bereit ist, die Angst vor der Einsamkeit zu überwinden.